Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
explodiert. Seine Augen sind unerklärlich feucht und neblig. Er rennt und rennt.
Dann plötzlich – karrumms! Das Pflaster springt vor ihm hoch und schlägt ihm ins Gesicht. Er rudert mit den Armen,doch seine Beine hängen fest, in einer Schlinge, die sich bei näherer Betrachtung als lederne Hundeleine entpuppt. An einem Ende der Leine befindet sich ein großer beleidigter Pudel, der ihn empört ankläfft. Am anderen Ende sieht Serge aus seiner Perspektive nur ein Paar pinke Leggings, die in schwarzen glänzenden Stiefeln mit hohen Absätzen stecken. Ein paar Zentimeter vor seiner Nase türmt sich ein dampfender Haufen frische Hundekacke. Ein rotes Rinnsal kriecht darauf zu, das wahrscheinlich aus seiner Nase kommt. Selbst in seinem benommenen Zustand schießt ihm ein klarer Gedanke durch den Kopf: »Puh! Das hätte auch viel schlimmer kommen können!«
Die Dame in den pinken Leggings zerrt an der Leine, die sich noch fester um seine Beine zieht, so dass der Hund wieder kläfft. Mit einem undurchdringlichen Lächeln sieht sie zu ihm herunter und murmelt: »Du böser Junge, du!«
Du böser Junge, du. In den Tiefen seines Hirns macht etwas klick .
Kann das ... Juliette sein?
Er schließt die Augen und lässt die Dunkelheit herein.
Serge
Klatsch!
Wie viel Zeit ist vergangen? Serge hat keine Ahnung. Er fasst sich an die Nase. Überraschenderweise ist sie noch da, aber sie ist klebrig und viel zu groß, und sie sendet pulsierende Schmerzen in seine Stirn. Auch die Augen funktionieren nicht richtig. Er blinzelt langsam, und als er die Augen wieder öffnet, wird das Zimmer scharf – das klobige cremefarbene Kunstledersofa, auf dem er liegt, das indische Spiegelkissen, der Fernseher, der in der Ecke vor sich hin röhrt. In einer Schüssel mit rosa Wasser auf dem Boden neben ihm schwimmt ein blutgetränktes Taschentuch; ein dicker brauner Pudel kuschelt sich an sein Bein. Über dem Krach des Fernsehers hört er das periodische Knallen einer Peitsche und das ekstatische Stöhnen von Juliettes Kunden im Nebenzimmer. Donnerwetter, die Frau muss ganz schön stark sein.
Er versucht wieder einzuschlafen, aber die Geräusche sind verstörend. Im Fernsehen läuft etwas über den G20-Gipfel, die führenden Politiker der Welt haben sich in Washington versammelt, um die Weltwirtschaftskrise in den Griff zu kriegen. Wird auch Zeit. Wenn er sich nicht so schlecht fühlen würde, hätte er wahrscheinlich auch ein paar Ideen dazu. Er weiß, die Zeiten sind schwer, von einem Premierminister könnte man trotzdem erwarten, dass er ein paar Scheinchen mehr für einen anständigen Anzug hinlegt. Ein paar Studiogäste diskutieren über die Notwendigkeit der Bankenregulierung – eine ernste jungeFrau in einem Blazer von der Stange, die von einer auf geteiltem Wohlstand basierenden Gesellschaft redet (was für ein geteilter Wohlstand? Die lebt wohl im Doro-Doro-Land – trotzdem, hübsche Beine), und ein Typ aus der City, der der Regierung die Schuld an der Krise gibt (»unkluge Leitzinsanhebung ... Kollaps der Immobilienpreise ... jetzt erst die Morgenluft einer Erholungsphase ...«). Die Kamera zoomt heran. Mann! Es ist Chicken in all seiner maßgeschneiderten Pracht, und seine spitzen Zähne schnappen nach den Worten, als er redet.
Gegen fünf hört er im Flur eine gemurmelte Verabschiedung, das Klicken der Tür, und ein paar Minuten später kommt Juliette mit zwei Tassen Tee herein. Serge trinkt einen Schluck und fühlt sich gleich besser.
Sie gibt dem Pudel einen Klaps. »Rutsch rüber, Beastie.«
Der Pudel seufzt und schnüffelt, als sie sich mit aufs Sofa quetscht.
Sie hat sich umgezogen und trägt jetzt ein schlichtes blassblaues Kleid, mit Abnähern am Busen und eng um die Taille, das seltsam sexy ist, ein bisschen wie eine Schwesterntracht. Manche Männer macht so was an. Sie muss Mitte vierzig sein, zu alt für ihn. Müde Linien um die Augen, aber ihr Gesicht ist nett.
»Wie fühlen Sie sich, mein Lieber?« Sie legt ihm die Hand unters Kinn, dreht sein Gesicht ins Licht und drückt mit dem Daumen auf seinen Nasenrücken. Ihre Hände sind klein und riechen nach Seife.
»Autsch!«
»Keine Sorge, ich bin Krankenschwester.«
»Im Ernst?«
»Na ja, inzwischen arbeite ich freiberuflich als Zehhaar-Therapeutin. Manche Leute finden es peinlich, aber ich halte es für eine wichtige und notwendige Dienstleistung.«
Zehhaar? Ist das ein Euphemismus für perverse Fetischaktivitäten?
»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Aber
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