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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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festem Glauben an ausgewogene Proteine war, gab es mal wieder Bohnen und braunen Reis. Otto und Serge fingen an, sich mit den knüppelharten Bohnen zu bewerfen – knüppelhart, weil niemand auf die Idee kam, sie vorher einzuweichen. Serge wich einer fliegenden Bohne aus und krachte mit dem Stuhl rücklings auf den Boden. Niemand außer Doro achtete auf ihn.
    »Alles in Ordnung, Serge?«, fragte sie. »Du fällst ständig um. Man könnte meinen, du wärst dyspraktisch.«
    Clara schlug wieder mit dem Löffel auf den Tisch. »Warum hört mir nie jemand zu?«
    »Sprich dich aus, Clara«, sagte Nick Holliday.
    »Was hast du gesagt, Liebes?«, fragte Doro.
    »Die Lehrerin hat gesagt, wir sind alles Trumpffamilien, die immer singen. Ist das ein Kartenspiel? Und warum singt ihr dann nicht?«
    »Selbstverwaltung heißt der Trumpf: Zieht euch selber aus dem Sumpf!«, skandierte der rote Fred mit seinem vollen Bariton am anderen Ende des Tischs.
    »Wacht auf, ihr Amseln dieser Erde«, sang Marcus, »die stets man noch zum Schlummern zwingt!«
    »Es heißt nicht Trumpffamilie, sondern Rumpffamilie, Clara«, erklärte Nick Holliday in seiner leisen Lehrerart. »Dasbedeutet, dass Kinder nur Mutter oder nur Vater haben, die Single sind ...«
    Sie spürte einen Anflug von Verlustgefühl, als sie die schale Wahrheit hörte.
    »Vögel, hört die Signale ...!« , schmetterte der rote Fred dazwischen und hob aufmerksamkeitheischend die Kelle, um seinen Beitrag zur Diskussion abzugeben. »Ich würde sagen, eine Familie bedeutet immer das, was man darin sehen will. Historisch gab es eine ganze Reihe verschiedener Familienformen, darunter ...«
    »Sind wir eine Rumpffamilie?«, quiekte Serge.
    »Natürlich nicht, Quatschkopf. Wir haben ganz viele Eltern.«
    »Nenn mich nicht Quatschkopf.«
    »Doro hat auch gesagt, du bist ein Quatschkopf!«
    »Clara, Serge, bitte ...«
    »Sie hat angefangen!«
    »Ach, halt die Klappe!«
    »Tolles Essen, Moira.« Marcus riss Fred die Kelle aus der Hand und nahm sich einen Nachschlag des Eintopfs, der außer Bohnen nur ein paar gehackte Zwiebeln, Dosentomaten und mehrere von Moiras langen rotbraunen Haaren enthielt. »Solltet ihr Feministinnen Clara nicht erklären, dass die Familie ein patriarchalisches Konstrukt zur Subordination der Frauen und ihrer Unterjochung am heimischen Herd ist?«
    Als sie diese Worte hörte, ging in Claras Kopf ein Licht an. Sie verrührte das Gehörte im Kopf wie einen magischen Trank. Sie prägte sich die Worte ein. Wenn sie allein war, sagte sie sie laut vor sich hin. Sie schmeckten nach Macht.
    Und eines Tages bekam sie die Gelegenheit, sie auszusprechen.
    »So, Kinder, ich möchte, dass ihr alle eine Seite über eure Familie schreibt«, sagte Mrs. Wiseman, die Klassenlehrerin.
    Mrs. Wiseman hatte die Angewohnheit, ihnen Aufgaben zu stellen und sie damit eine Weile allein zu lassen, während sie sich ins Lehrerzimmer schlich und eine Zigarette rauchte. Durchs Fenster des Lehrerzimmers konnten die Kinder sie qualmen sehen.
    Clara meldete sich. »Miss, die Familie ist ein Pfannkuchenprodukt der Suppennation der Frauen gegen das Überkochen am schweinischen Herd.«
    Alle starrten sie verblüfft an. Die Lehrerin fixierte sie mit steinernem Blick.
    »Das sind große Worte für ein so kleines Mädchen.«
    Clara grinste nur, senkte die Augen und ließ die Worte ihr Zauberwerk verrichten.
    Im Klassenzimmer erhob sich ein Scharren und Flüstern. Rebellion witternd, befahl Mrs. Wiseman ihnen, die Hefte herauszuholen, und verschwand schmollend zum Rauchen ins Lehrerzimmer. Sie kam erst kurz vor dem Mittagessen zurück, als längst ein Riesenkrawall im Gange war und Kinder schreiend durchs Klassenzimmer rannten: »Suppenfrauen!«, während andere die Pultdeckel knallen ließen und sangen: »Schweinkram! Schweinkram!«
    »... how shall we sing the Lord’s song in a strange land? ...«
    Von da an begannen die anderen, auch das Hamstermädchen, sie endlich mit Respekt zu behandeln. Clara wurde um Rat gefragt, wenn es um Rechtschreibung ging, Sex, Rauchen oder andere wichtige Bereiche des Lebens. Clara beantwortete alle Fragen offen und ausführlich, und was sie nicht wusste, erfand sie. Zu Hause vor dem Spiegel übte sie den strengen Blick.
    Und dabei entdeckte sie die Freuden des Lehrens.
    Es war Nick Holliday, der sie ermutigte, Lehrerin zu werden, mit seiner seltsamen, lauten Partnerin Jen, Ottos Mutter, bevor sie in eine andere Kommune abwanderte, wo alle Kinder »Wild« hießen.

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