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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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hat es bestimmt nicht böse gemeint.«
    »Und ob, der kleine Scheißer!«, sagt Mrs. Taylor.
    Erst auf der Autobahn fällt ihr ein, dass sie vergessen hat, nach dem Hamster zu sehen. Und noch etwas macht ihr zu schaffen. Was ist mit ihren Setzlingen passiert? Sie sind alle spurlos verschwunden.

Doro
    Pessimismus des Geistes und Optimismus des Willens
    »Ich hätte den komischen alten Kauz nicht anschreien dürfen. Wahrscheinlich wollte er nur nett sein«, denkt Doro, die Oolie-Annas Hand festhält, als sie sich im fahrenden Bus die Treppe hochkämpfen. Außerdem wünscht sie, sie hätte Oolie nicht angeschrien, obwohl ihre Tochter sehr wohl einen Begriff davon hat, was unartig ist, und dazu gehört, Dinge nach Menschen zu werfen. Jetzt schmollt Oolie und sagt, sie will bei Clarie wohnen, und Doro muss sich zusammenreißen, um nicht zu sagen: »Clarie will dich aber nicht, Oolie. Sie hat ihr eigenes Leben.«
    »Guck mal, Mum! Greggs! Komm, wir halten an!«
    Oolie klopft gegen die Scheibe, als der Bus auf seinem Weg durch die Stadt an einer schäbigen Reihe von Schnäppchenläden und Karaokebars vorbeirumpelt. Die Bäckerei Greggs ist eins ihrer Lieblingsgeschäfte. Doch angesichts von Oolies Neigung zur Rundlichkeit muss Doro streng sein – vor allem, da sie selbst eine Schwäche für eine gelegentliche Sahneschnitte hat. Das ist ein weiterer Grund dafür, dass sie das Gefühl hat, Oolie ist noch nicht bereit für ihre eigene Wohnung. Sie würde ständig lauter Mist in sich hineinstopfen, und wer hätte dann ein Auge auf sie?
    »Schsch. Wir essen zu Mittag, wenn wir zu Hause sind.«
    Sie hat diesen aufdringlichen Sozialarbeiter mit seinem Klemmbrett und seinen gönnerhaften Faltblättern wirklichsatt, der ihr einzureden versucht, dass sie überfürsorglich sei und dass Oolie-Anna aus der »Komfortzone« heraus und »ihren eigenen Träumen nachgehen« müsse, um »die Fülle ihrer Individualität zu entfalten«. Du lieber Himmel. Was glaubt er, wer Individualität und eigene Träume erfunden hat, damals in den Siebzigern?
    Oolie winkt mit beiden Händen einem Hilfspolizisten zu, der einer Reihe von Autos vor der Ladenzeile Strafzettel verpasst. Doro hat dem Sozialarbeiter gegenüber nichts davon erwähnt, aber Oolies ungehemmte Sexualität ist auch ein Grund zur Sorge. Würde Oolie daran denken, jeden Abend die Pille zu nehmen, wenn niemand da wäre, der sie daran erinnert?
    »Komm, Oolie, wir sind da.«
    Ans Geländer geklammert steigen sie die Treppe hinunter und hinaus auf den Bürgersteig der Hardwick Avenue, wo Oolie schnurstracks auf eine Pfütze zugeht und mit beiden Füßen hineinspringt.
    Die Doppelhaushälfte aus den dreißiger Jahren steht ein wenig zurückgesetzt hinter Ilexbüschen in einer ruhigen, mit Bäumen gesäumten Straße, wo die Nachbarschaft aus Zahnärzten und Steuerberatern besteht; es gibt drei großzügige Schlafzimmer und einen kleinen sonnigen Garten – ein Haus, wie sie es sich niemals leisten könnten, wenn sie jetzt nach London zurückzögen, wo sie für den gleichen Preis mit Glück eine Zweizimmerwohnung bekämen. Es hat mit der Deindustrialisierung des Nordens zu tun, erklärt Marcus. Die ganze Zeit hatten sie gedacht, sie würden mit revolutionären Lebenskonzepten experimentieren, doch die eigentliche Revolution vollzog sich unmerklich direkt vor ihrer Nase: der Niedergang der herstellenden Industrie und der Triumph des Finanzwesens.
    Seit er im Ruhestand ist, hat Marcus sich in Serges altem Zimmer verkrochen, das er als Arbeitszimmer benutzt. Wollte Serge nach Hause kommen und seine Doktorarbeit hier fertigschreiben, müssten sie sich etwas überlegen. Gott weiß, was Marcus da oben macht. Er sagt, er schreibe eine Geschichte der nicht-kommunistischen, nicht-trotzkistischen Linken – die Fünfte Internationale, wie er sie nennt. Es kann nicht gut für ihn sein, so viel Zeit damit zu verbringen, über der Vergangenheit zu brüten, das macht die Menschen doch nur unglücklich. Ja, in letzter Zeit ist er wirklich immer verschlossener und brummiger geworden.
    Sie setzt Wasser auf, öffnet den Kühlschrank und holt Milch heraus.
    »Sei die Veränderung, die du sehen willst.« Das Zitat von Mahatma Gandhi ist mit einem grünen Froschmagneten an der Kühlschranktür befestigt; es hat den Platz von »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen« eingenommen, das in Solidarity Hall an der Kühlschranktür hing, von einem Magneten in Form einer roten Fahne

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