Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
gehalten.
Sie bringt eine Tasse Tee nach oben und stellt sie auf Marcus’ Schreibtisch.
»Wie geht’s, Liebster?« Sie streicht ihm mit den Fingern durchs Haar.
Er zuckt zusammen, schaut zu ihr auf, lächelt und blinzelt eulenhaft hinter der runden Brille, als sei er gerade aus tiefem Schlaf erwacht. »Der italienische Genosse, der 1984 zu uns kam – erinnerst du dich an seinen Namen?«
»Bruno. Bruno Salpetti.« Doro schließt einen Moment die Augen und stellt fest, dass sie sich nicht nur an seinen Namen erinnern kann, sondern auch an die rau-weiche Textur seiner Wangen, wo der stoppelige Teil aufhörte und die babyweiche Haut begann, den sauberen Duft seiner Seife, den feinen schwarzen Flaum an seinen Unterarmen und auf seinem Bauch und die dichteren schwarzen Locken darunter.
»Genau!« Marcus notiert sich den Namen. »War er in der Potere Operaio?«
»Lotta Continua.«
Ob Marcus von ihr und Bruno weiß? Und würde es ihm, nach all den Jahren, etwas ausmachen?
»Das war meine erste Begegnung mit der autonomen Bewegung. Hör dir das an.« Er beugt sich vor und liest vom Bildschirm ab. »Obgleich die Arbeiter ihre Zeit an den Kapitalisten verkaufen müssen, der den Arbeitsplatz besitzt, sind ihre menschlichen Bedürfnisse und Wünsche denen des Kapitalisten entgegengesetzt.«
»Meine wunderschöne compagna «, hatte Bruno sie genannt. Es ist lange her, dass Marcus etwas in der Richtung zu ihr gesagt hat. Ja, damals konnte sie mit Moira Lafferty gut mithalten, trotz deren rotbrauner Mähne und Doppel-D-Oberweite. Die neuen Männer, schien es, waren nicht viel anders als die alten.
»Autonomie ist der Kampf der Arbeiter für ihre eigenen persönlichen und ökonomischen Ziele ...«
Selbst der rote Fred, der seine Tage damit verbrachte, das wortreiche Dickicht der Theorie des Marxismus zu durchwandern, und die Nächte mit einer Reihe tränenreicher Freundinnen aus London, hatte eine Schwäche für Moira. Wahrscheinlich war er sogar der Vater von Star.
»... und gegen das gnadenlose Streben nach Profit durch den Arbeitgeber ...«
Alle Frauen waren Schwestern, und untereinander waren Wut und Eifersucht verpönt, weil alle Opfer des Sexismus waren und solidarisch sein mussten. Schöne Frauen waren unterdrückt, weil sie nur als Sexobjekt angesehen wurden, und hässliche Frauen waren unterdrückt, weil sie überhaupt nicht angesehen wurden.
Und wir waren wirklich wie Schwestern, Moira und ich, überlegt sie jetzt. Wir hielten zusammen wie Schwestern, und wir zankten und stritten uns wie Schwestern, vor allem um Bruno Salpetti.Bruno war 1984, als der Bergarbeiterstreik begann, aus Modena nach Solidarity Hall gekommen, um, wie er erklärte, den Kampf des Proletariats zu unterstützen. Er schlief auf einer Matratze im marxistischen Studienzentrum, das längst zum Spielzimmer für die Kinder umfunktioniert worden war. Sein einziges Gepäck war ein kleiner Rucksack, der eine Auswahl von Texten aus Gramscis ›Gefängnisheften‹, einen Rasierer und ein Paar sehr kleine schwarze Unterhosen enthielt. (Natürlich fand Moira irgendeinen Vorwand, das auszukundschaften, und gab ihre Ergebnisse flüsternd an Doro weiter.) Der Rasierer wurde nicht benutzt – Bruno ließ sich einen Bart wachsen. Doro mochte normalerweise keine bärtigen Männer, aber an Bruno wirkte der Bart aufregend löwenhaft. Die Unterhose tauchte mit erfreulicher Regelmäßigkeit an der Wäscheleine auf. Bruno unterbrach die Monotonie der Hülsenfrucht-Körner-Diät mit köstlichen Spaghettigerichten, die er mit frischen Tomaten und Olivenöl zubereitete; er behauptete, dass Gramsci mehr zur Revolution beizutragen habe als Trotzki; und er glaubte an – und praktizierte – freie Liebe. Er war erst fünfundzwanzig, aber was macht ein Jahrzehnt unter Freunden für einen Unterschied?
Erwartungsgemäß war Moira die erste, die bei ihm landete.
»Er hat einen Schwanz wie ein Gorilla!«, berichtete sie mit ihrer typischen Subtilität.
Doro spürte einen Anflug von Ärger. Was wusste Moira schon von Gorillas?
»Ach, wirklich«, sagte sie.
Nicht genug damit, dass Moira zu jeder Tages- oder Nachtzeit mit Bruno ins Bett ging, sie musste ihren Spaß auch noch in einem Crescendo spitzer Schreie und Seufzer herausposaunen, die bis in den letzten Winkel des Hauses zu hören waren. Obwohl das Gebäude massiv gebaut war, sorgte irgendetwas am Grundriss von Solidarity Hall dafür, dass der Schall durch Treppen und Flure ins ganze Haus getragen wurde. Egal,
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