Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Generalstreik verteilt hatte. Das muss gut dreißig Jahre her sein, denn Clara war noch ein Baby und sie hatte sie in einem Tragetuch auf dem Rücken getragen. Die Männer hatten gelacht und die Flugblätter zerknüllt, was Doro ihrem falschen Bewusstsein zuschrieb, und einer von ihnen hatte Clara ein Karamellbonbon gegeben, das Doro ihr wegnahm, womit sie einen Schreianfall auslöste. Es war ein seltsamer Gedanke, dass Oolie dort arbeiten sollte, und es war ungeheuerlich, dass der Hungerlohn, den Oolie bekam, auch noch von der Stadt subventioniert wurde.
Sie vermisst die Nachmittage, die sie früher gemeinsam im Schrebergarten verbrachten, glückliche Pausen vom Alltag bei sinnvoller Aktivität und Nähe. Oolie liebt Gartenarbeit, sie ist in ihrem Element, wenn sie mit ihren kurzen, kräftigen Fingern im schwarzen Kompost wühlen kann, die Wangen von der frischen Luft gerötet. Andererseits sieht Doro jetzt, wie Oolie abends voller Schwung nach Hause kommt und vor Geschichten übersprudelt, wer was gesagt hat und wer sich mit wem in die Haare gekriegt hat, und das hat Doros Einstellung geändert. In einer Kaffeebüchse spart Oolie ihr Geld und fängt an sich auszumalen, was sie sich eines Tages leisten wird. Sie hat eine Sammlung von Prospekten exotischer Orte, die sie besuchen will; ihr Wortschatz hat sich erweitert und enthält bis dahin unbekannte Schimpfwörter, und sie hat zu schwindeln gelernt.
Der Staubsauger röhrt und rasselt, als er unsichtbarenSchmutz aus dem Teppich zieht; wenn es nur so einfach wäre, den Müll und Dreck wegzusaugen, der ihr eigenes Leben verstopft. Es ist weniger die Hausarbeit, die sie so ermüdend findet, als das Hätscheln, das Bitten, das Trösten, das Kümmern, das Vermitteln, das Streicheln von Egos – die ganze emotionale Arbeit, die Frauen ständig leisten und die niemand als Arbeit anerkennt. Außer man ist Krankenschwester, Sozialarbeiterin oder Lehrerin, dann hat einen die weibliche Sozialisierung zumindest auf die schlecht bezahlte Karriere in einem Beruf mit wenig Renommé vorbereitet. »Sei die Veränderung, die du sehen willst«, höhnt die Kühlschranktür. Ghandi hatte gut reden mit seiner Armee von Frauen, die um ihn herumscharwenzelten und ihn betüttelten, der musste sich um nichts Sorgen machen als um die ganz großen Dinge wie den Weltfrieden.
Sie kramt in der Schublade, in der sie T-Shirts mit dem passenden Slogan für alle möglichen Gelegenheiten aufbewahrt. Ah! Das hier ist für den Sozialarbeiter! »Sei realistisch – verlange das Unmögliche.« Sie zieht es sich über den Kopf und stellt bedauernd fest, dass ihre Brüste, die früher das »r« und das »t« hervorgehoben haben, jetzt bei »r« und »a« hängen. (Ihre Mutter hatte recht mit dem »Büstenhalter«, wie mit vielem anderen auch.) Dann fährt sie sich schnell mit dem Kamm durchs Haar und ist schon auf der Treppe nach unten, als es klingelt.
Mr. Clements ist ein kerniger junger Mann aus Yorkshire mit einem angenehmen rötlichen Gesicht, dickem blondem Haar, das über der Stirn steil nach oben steht, und hellen Stoppeln ums Kinn, aus denen vielleicht mal ein Bart werden soll. Er erinnert sie ein bisschen an Claras Exfreund Josh, der unter Umständen von der Bildfläche verschwunden ist, zu denen sich Clara nicht äußern will, was Doro mit leichtem Unwillen über ihre Tochter erfüllt, denn die hat immer noch keinen geeigneten Partner gefunden, und es gibt auch sonst keine Anzeichen,dass sie bald die Enkel produziert, die sich Doro so wünscht.
»Hallo, Mrs. Lerner. Wie geht’s?«
»Gut.« Sie kann es nicht leiden, Mrs. genannt zu werden, obwohl sie nicht verheiratet ist, und noch dazu Lerner, was Marcus’ Nachname ist, und nicht Marchmont, der ihrer ist. »Möchten Sie eine Tasse Tee?«
»Danke sehr. Mit Milch, ohne Zucker.«
Er setzt sich an den Küchentisch und streift die blaue Jeansjacke ab. Nur um ihm zu zeigen, mit wem er es zu tun hat, reicht sie ihm den Tee in einem angeschlagenen Becher mit der Aufschrift: »Veteran der Schlacht von Orgreave 1984«, ein Souvenir des Bergarbeiterstreiks.
»Mann, das ist lange her.« Er trinkt einen großen Schluck und betrachtet den Becher interessiert. »Da war ich noch ein kleiner Junge. Ich weiß noch, wie mein Vater verhaftet worden ist, und meine Mam dachte, es wäre das Ende der Welt. Aber für mich war’s der Auslöser, was anderes mit meinem Leben anzufangen, als in die Grube einzufahren wie alle anderen.« Er zieht einen Hefter aus
Weitere Kostenlose Bücher