Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
der Aktentasche. »Wie geht’s Oolie-Anna bei Edenthorpe?«
»Gut.«
Mr. Clements nickt und macht ein Kreuzchen auf einem der Papiere in dem Hefter, und sie ist froh, dass er der Versuchung widersteht, sie daran zu erinnern, dass es seine Idee gewesen ist und sie seinerzeit entschieden dagegen war.
»Ja, sie ist ’ne Nummer. Edna sagt, sie hat immer die Lacher auf ihrer Seite.«
»Es macht ihr Spaß, mit Leuten zusammen zu sein«, gibt Doro widerstrebend zu. Sie findet es immer noch irritierend, dass Oolie ein soziales Leben außerhalb der Familie hat.
»Die nächste Stufe, über die wir nachdenken sollten, Mrs. Lerner, ist eine eigene Wohnung.«
»Dafür ist sie noch nicht bereit«, schnaubt Doro.
Mr. Clements sortiert seine Papiere und trinkt noch einen Schluck Tee.
»Es ist nur natürlich, dass Sie sich Sorgen machen, Mrs. Lerner. Aber auf lange Sicht ist es für alle Beteiligten besser, wenn Oolie-Anna lernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Finden Sie nicht auch?«
Seine gute Laune ist gnadenlos. Doro weiß, dass sie manipuliert wird.
»Wir wollen alle das Beste für sie, Mr. Clements, aber wir haben unterschiedliche Ansichten darüber, was sie braucht.«
»Kann ich das als Ja nehmen?«
»Nein, können Sie nicht. Ich kenne Oolie-Anna sehr viel besser als Sie.«
Wütend starrt sie in sein junges rosa Gesicht auf der anderen Tischseite.
»Heutzutage müssen wir damit rechnen, dass Kinder mit Down-Syndrom ihre Eltern überleben.« Sein Ton ist immer noch unerschütterlich heiter. »Und wir wollen auf jeden Fall die Situation vermeiden, wo sie nicht nur ihre Eltern verlieren, sondern gleichzeitig ihr vertrautes Umfeld. Deswegen möchten wir so früh wie möglich mit dem Prozess der Ablösung anfangen ...«
»Sie denken, Marcus und ich kratzen jede Minute ab?«, unterbricht sie ihn und spürt die Hitze in ihren Wangen.
Ungerührt nutzt Mr. Clements seinen Vorteil aus. Den Umgang mit wütenden Klienten hat er in seiner Ausbildung trainiert.
»Das habe ich nicht gesagt, Mrs. Lerner. Im Gegenteil, wir müssen so weit wie möglich im Voraus zu planen anfangen, damit wir nicht überrascht werden, wenn ... wenn Sie und Ihr Mann einmal nicht mehr in der Lage sind, sich um Oolie-Anna zu kümmern.«
Weder hebt er die Stimme, noch weicht er von seinem Skript ab. Am liebsten würde sie ihn erwürgen.
»Es hilft, wenn Sie sich Ihren Ängsten stellen, Mrs. Lerner. Falls Sie eine bestimmte Sorge haben, können wir darüber reden. Es ist ganz natürlich, wenn Sie und Ihr Lebensgefährte besorgt sind ...«
Wie viel Informationen hat er eigentlich? Gibt es in der Akte des Sozialamts von 1994 Querverweise auf den Polizeibericht?
»Wenn es darum geht, dass wir nicht verheiratet sind – wir haben nämlich vor ...«
»Ihr Alter ist der Hauptfaktor, um den es hier geht, Mrs. Lerner – das ist bei Down-Kindern natürlich häufiger so.«
Doro widersteht dem Impuls, ihm auf die Aktentasche zu kotzen.
»Oolie-Anna ist kein Kind.«
»Genau davon spreche ich, Mrs. Lerner. Sollen wir dann einen Termin für nächste Woche ausmachen, wenn Sie und Ihr Lebensgefährte Gelegenheit hatten, darüber zu reden?«
Er ist hartnäckig, der Junge.
»Nein. Das ist nicht nötig.«
Sie steht auf und funkelt ihn an, bis auch er aufsteht.
»Also, ich muss dann mal weiter. Vielen Dank für den Tee, Mrs. Lerner.«
Er lächelt, geduldig, zuversichtlich. Er denkt, er macht Fortschritte.
Als er weg ist, sitzt sie noch ein paar Minuten am Küchentisch. Aus irgendeinem Grund fühlt sie sich vollkommen ausgehöhlt. An der Wand tickt die Uhr über einem verblassten Foto der Kommune, das im Garten aufgenommen wurde. Megan ist darauf zu sehen, mit Oolie, es muss also irgendwann zwischen 1985 und 1988 entstanden sein. Es wirkt alles so weit entfernt, die Frauen mit den langen ungekämmten Haaren, die Kinder verlottert und frech. Wo sind all die Jahre hinverschwunden? Sie wünschte, sie wäre nicht so aggressiv zu dem jungen Sozialarbeiter gewesen – das hat er nicht verdient, ermeint es gut, und eigentlich macht er seinen Job ziemlich gut. Sie weiß, dass ihm ihr Widerstand dagegen, dass Oolie auszieht, unvernünftig vorkommen muss, aber sie ist nicht bereit, die sorgsam verdrängte Vergangenheit anzupacken.
Noch nicht.
Marcus kommt herunter und legt ihr den Arm um die Schulter – wahrscheinlich hat er die Haustür gehört.
»Alles okay?«
»Ja. Wie läuft’s mit dem Buch?«, fragt sie.
»Sehr gut. Ich bin mit der Analyse der Linken
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