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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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seinem Atem hebt und senkt, der den kleinen geschlossenen Raum stickig macht? Den ganzen Tag hat er am Schreibtisch gehockt und die Weiden der Vergangenheit abgegrast. Sie war draußen auf der Parzelle, und in ihren Gliedern sitzt die wohlige Müdigkeit von Bewegung an der frischen Luft – mit ein paar Pieksern in Knien und Wirbelsäule, die sie daran erinnern, dass sie nicht mehr die Jüngste ist. Oolie hat ihr gefehlt, und sie fragt sich wieder einmal, wie Megan vor all den Jahren davonlaufen und sie zurücklassen konnte.
    Vielleicht wollte Megan keine Neuankömmlinge in der Kommune, oder vielleicht waren ihr die Chrises einfach unsympathisch, jedenfalls ist sie mit Chris Watt und Chris Howe nie gut klargekommen, trotz (oder vielleicht wegen) der Tatsache, dass die Chrises sich große Mühe gaben, sie umzuerziehen.
    Chris Watt, die gelernte Krankenschwester war, half Megan bei der Behandlung ihrer Ekzeme und ermunterte sie, das Rauchen aufzugeben und Oolie zu stillen, was weder Megan noch Oolie leichtfiel. Chris Howe übernahm es, ihr die Grundlagen des Marxismus und der freien Liebe beizubringen.
    Einmal bekam Doro eine Unterhaltung mit, als sie Geschirr spülte und Chris Howe und Megan noch am Frühstückstisch saßen. Knirschkarl hockte unter dem Tisch und quälte einen Marienkäfer, den es aus dem Garten hereingeweht hatte. Chris trug das lange graue Haar in einem Pferdeschwanz und hatte (Gott sei Dank) eine Pyjamahose und ein T-Shirt an mit dem fast ausgewaschenen Slogan »Trau keinem über dreißig«, unter dem sein behaarter rosa Bauch hervorquoll. Megan trug Moiras blau-lila Häkeltop und darunter einen gut sichtbaren schwarzen Spitzen-BH.
    »Die sozialistische Gesellschaft wird die Frauen aus der repressiven Monogamie befreien, damit sie endlich sexuelle Erfüllung erreichen können«, erklärte Chris Howe, während seine Augen an den Umrissen ihrer Brüste unter dem Häkeltop klebten.
    Megan sagte nichts.
    Ihr Schweigen als Ermutigung auffassend, fuhr er fort: »Im Sozialismus wäre es zum Beispiel ganz normal, dass du und ich jetzt miteinander schlafen würden.«
    »Du und ich?« Unwillkürlich zuckte Megan auf ihrem Stuhl zurück und musste sich an der Tischkante festhalten, um nicht rückwärts umzukippen.
    »Mam, was ist Soßenlismus?«, nölte Carl unter dem Tisch.
    »Was Schmutziges!«, knurrte Megan zurück.
    Als Doro sich hinausschlich und leise die Tür hinter sich schloss, hörte sie das Klatschen einer Hand und Megans Stimme, die schrie: »Lass das, Carl!«, gefolgt von einem leisen Winseln.
    Sie kam noch ein anderes Mal dazu, als die beiden am Küchentisch saßen.
    Megan rauchte und starrte aus dem Fenster. Chris, diesmal ohne Hose, hatte einen Haufen Papiere auf dem Tisch ausgebreitet und erklärte: »Pass auf, im Kapitalismus gehören die Produktionsmittelden reichen Parasiten, und die Arbeiterklasse hat nichts zu verkaufen außer ihrer Arbeit.«
    »Ich will reich sein«, sagte Megan und strich sich eine Strähne ihres dicken schwarzen Haars hinters Ohr, die ihr ins Gesicht gefallen war.
    »Du willst ein Parasit sein?«
    »Ja. Paris, London, New York, alles ist besser als hier.«
    Es dauerte ein paar Tage, bis in der Kommune jemand mitbekam, dass Megan verschwunden war. Doro hatte ihre Abwesenheit zwar bemerkt, aber angenommen, dass sie mit Knirschkarl bei ihrer Mutter in Harworth war und bald wieder zurückkommen würde, wie bisher auch.
    Falls jemandem auffiel, dass Megan ungewöhnlich lange wegblieb, dann wahrscheinlich eher mit Erleichterung als mit Sorge, so als wäre ein störendes Hintergrundgeräusch plötzlich verstummt – wobei es bei Megan gerade die von ihr ausgehende Stille war, die störte. Die Kinder waren froh, dass Carl ihnen nicht im Namen der Solidarität aufgezwungen wurde. Selbst Oolie wirkte ruhiger. Erst am fünften Tag fingen sie an, einander zu fragen, ob Megan irgendwem irgendetwas gesagt hätte. Doro warf einen Blick in ihr Zimmer und stellte fest, dass Megans und Carls Kleider fehlten, ebenso die Stofftiersammlung auf ihrem Bett. Die Kleider, die sie sich von den anderen geliehen hatte, lagen ordentlich zusammengefaltet auf einem Sessel, darunter auch Moiras blau-lila Häkeltop.
    Am sechsten Tag fuhr Marcus mit dem uralten braunen Lada der Kommune nach Harworth, wo er durch die Straßen streifte und willkürlich Passanten ansprach.
    »Kennen Sie eine Megan Cromer? Sie hat einen kleinen Jungen namens Carl?«
    Es musste Zahltag sein, denn auf der Post war eine

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