Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
irgendwelche Prinzipien diskutieren, an dem gelben Tisch, auf dem überquellende Aschenbecher stehen und Flaschen und Gläser, die im Kerzenlicht funkeln, weil wieder mal der Strom abgestellt wurde. Und Doro, die ihn plötzlich fest an sich drückt und ihm ins Ohr flüstert: »Wir erschaffen eine bessere Welt für dich, Serge.«
Doro
Grau und ausgeleiert
Doro kuschelt sich an die Rundung von Marcus’ schlafendem Rücken und drückt das Gesicht in seine grauen Locken, die schwach nach Zigarettenrauch, Kräutershampoo und Träumen riechen. Er bewegt sich, zieht sie an sich, gibt ein paar gemurmelte Worte und Schnaufer von sich, die eine Liebeserklärung oder auch eine Analyse von Band zwei des ›Kapitals‹ sein könnten oder eine Traumkombination aus beiden. Sie bedeckt seine Schulter mit kleinen Küssen, die schon jetzt einen leichten Beigeschmack von Betrug haben, und überlegt, wie sie auf die E-Mail antworten soll, die sie am Nachmittag bekommen hat, eine Woche nach der Begehung der Kleingartensiedlung mit dem Stadtrat.
Können wir uns nächste Woche in den Schrebergärten sehen? Malcolm Loxley.
Eigentlich weiß sie schon, was sie antworten wird; worüber sie nachdenkt, ist, was sie anziehen soll. Sie hat noch nicht zurückgeschrieben – damit wartet sie anstandshalber bis morgen –, aber sie hat einen Blick in ihre Wäscheschublade geworfen, seufzend die Sammlung verwaschener Schlüpfer und grauer ausgeleierter BHs gemustert und beschlossen, dass sie einkaufen gehen muss. Für den Fall, dass die Liebe erblüht, oder auch nur Lust, will sie nicht in ausgeleiertem Grau dastehen.
Das letzte Mal untreu war sie Marcus vor mehr als zwanzig Jahren, während des Bergarbeiterstreiks, und sie fragt sich, wann er ihr das letzte Mal untreu war. Damals war Untreue natürlich bedeutungslos, weil sie Eifersucht und Besitzansprüche auf die Müllhalde der Geschichte geworfen hatten, zusammen mit Privatbesitz und dem Kernfamilienideal. Wenn das grünäugige Monster doch einmal seine Klauen zeigte, lächelte man tapfer und biss die Zähne zusammen, denn wer Eifersucht zugab, zeigte damit, dass er an der atavistischen bürgerlichen Ideologie klebte, und das war sogar noch schlimmer als betrogen zu werden. Weil sie Marcus wirklich liebte, auch wenn sie ihm nicht immer treu war, ersparte sie ihm diese Demütigung und behielt ihre Eskapaden für sich, und zweifellos tat er das Gleiche für sie. (Im Gegensatz zu Moira, die immer wollte, dass jeder wusste, wie viel Spaß sie hatte, und mit wem.)
Außerdem ging es in der Kommune nicht in erster Linie um Sex – anders als Unbeteiligte glauben –, sondern darum, eine neue gesellschaftliche Ordnung vorzuleben und einen neuen Menschentyp zu schaffen: befreit, selbstlos, nicht materialistisch, für das Gemeinwohl engagiert. Natürlich war es nicht so einfach, wie sie es sich vorgestellt hatten. In der Kommune zu leben bewahrte Liebende nicht davor, vor Eifersucht durchzudrehen, oder Genossen davor, Schokolade zu horten, oder Eltern davor, die eigenen Kinder denen der anderen vorzuziehen. Aber sie hatten die besten Absichten. Und ihre wunderbaren Kinder – Clara, Serge, Otto und Star, Toussaint und Kollontai (auch wenn sie nur für kurze Zeit zur Kommune gehörten) und allen voran Oolie – machten ihnen Ehre.
»Ich liebe dich«, flüstert sie Marcus ins schlafende Ohr, kuschelt sich enger an ihn, streichelt seinen weichen Bauch, die schlaffe Haut an seinen Schultern und Armen. Ihre Körper sind zusammen alt geworden, ausgeleiert und bequem wie ihre Unterhosen, und auch wenn sie nicht mehr die leidenschaftlichen Gipfel ihrer Experimentierjahre erreichen und Sex nichtmehr so häufig stattfindet, ist er immer noch zärtlich und liebevoll.
Warum also dieser unerwartete Stachel des Begehrens, dieser Fadenzieher im behaglichen Gewebe ihres Lebens?
Malcolm Loxley ist nicht mal ihr Typ – nein, es liegt nicht an ihm; es liegt an ihr. Es liegt an ihrem sechzigjährigen Körper, der ihr vorzugaukeln versucht, dass sie noch mal dreißig wäre. Nur ein Mal noch.
Clara
Süßstoff
Als Clara am Donnerstag nach der Schule in der Hardwick Avenue vorbeifährt, steigt ihr der Geruch nach altem Essen, Bohnerwachs und ungelüfteten Fluren in die Nase. Er erinnert sie ... woran? Sie geht ihr Geruchsgedächtnis durch. Ja, genauso roch das Haus ihrer Großeltern in Norwich, wenn sie als Kinder zu Besuch kamen. Es ist der Geruch nach alten Leuten, schwach noch, aber unverkennbar. In der Spüle
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