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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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mich entschuldigen?«, fragt er.
    Serge fängt seinen Blick auf, als er das Grüppchen anstarrt. Er kann sich offensichtlich überhaupt nicht an sie erinnern.
    »Nein, er ist hier, weil er sich bei dir entschuldigen will.« Toby gibt Lucian einen kleinen Schubs zwischen die Schulterblätter.
    Lucian stolpert einen Schritt vor. »Ja, tut mir leid, Mann. Ich war ziemlich hinüber.«
    »Kein Problem. Schnee von gestern. Hatte ich schon vergessen.« Jonas will wieder in die Küche zurück, aber Toby ist noch nicht zufrieden.
    »Er hat dich einen miesen kleinen Proll genannt, weißt du nicht mehr? Er hat dir gesagt, du sollst uns mehr einschenken.«
    Serge fängt an, sich unbehaglich zu fühlen. Anscheinend wird hier eine uralte Rivalität ausgetragen. Der Hamburger und die Franzosen senken die Köpfe und studieren die Weinkarte.
    »Ach, ja.« Jonas blinzelt. »Schon gut. Alles cool. Wir besaufen uns alle manchmal.«
    »Es war mein Geburtstag. Ich war voll wie ein Kutscher«, stammelt Lucian, erleichtert, dass der Barmann es nicht auf eine Konfrontation anlegt. »Ich meine, wenn man einen ordentlichen Bonus kriegt, muss man auch ordentlich feiern, aber ...« Er grinst feucht.
    »Sag’s ihm, Lucie«, unterbricht ihn Toby. Irgendein Teufel scheint ihn zu reiten. »Sag ihm, was du verdienst. Sag ihm, wie hoch dein Bonus ist.«
    Jonas’ Blick fliegt zwischen Lucian und Toby hin und her. »Schon gut, Mann. Kein Stress.« Er schaut sehnsüchtig über die Schulter zur Küche.
    »Manche Leute halten uns für überbezahlt«, beharrt Toby. »Ich wette, du zum Beispiel. Weißt du was? Vielleicht hast du recht. Aber keiner tut was dagegen, weil sie alle eine Scheißangst haben, dass wir einfach nach Singapur ausfliegen. Und dann können die ganzen Bars, die ganzen Läden hier, die ganze City – das ganze verdammte Land kann dichtmachen.«
    Er breitet die Arme aus, um die lange, verspiegelte Bar mit den Reihen von Flaschen und Gläsern einzuschließen. Jonas, der eigentlich ein netter Typ zu sein scheint, macht einen Schritt rückwärts.
    »Ja, schon klar. Es ist nur ... ich meine, was macht ihr eigentlich, dass ihr so viel Geld verdient?«
    »Wir entwerfen Algorithmen für Derivate?« Inzwischen hat Lucies Stimme diesen kriecherischen Frageton.
    »Derivate?«
    »Sachen, deren Wert indirekt von anderen Sachen abgeleitet ist, von zugrundeliegenden Assets? So was wie Hypotheken, Wertpapiere, Termingeschäfte?«, plappert er. »Zum Beispiel Optionen auf Terminkontrakte mit Bananen – damit hast du die Möglichkeit, die Bananen von morgen zum Preis von heute zu kaufen? Oder Weizen? Oder Kaffee? Du wettest darauf, dass der Preis hochgeht?«
    »Oder du kannst den Preis selbst hochtreiben«, erklärt Tootie. »Und du kannst mit Optionen handeln, genau wie mit Bananen. Nur ohne Wetterprobleme, ohne Lager- oder Transportkosten, ohne Streiks.«
    »Also so ’ne Art Glücksspiel?«
    »Nicht Glücksspiel! Weil neue Mathematik eliminiert Risiko.« Maroushkas Wangen sind gerötet. »Bald alle Handelsgeschäfte computerisierte Hochfrequenz Algorithmen Nonstop-Rendite.«
    Jonas starrt sie an, als wäre er überrascht, dass ein Wesen von solchem Liebreiz sprechen kann. Serge fängt seinen Blick auf und schüttelt den Kopf, aber der arme Trottel grinst immernoch hoffnungsvoll. Bildet sich wirklich ein, er hätte eine Chance.
    »Die Banken erfüllen eine lebenswichtige Aufgabe in der Wirtschaft, indem sie Unternehmen und Hauskäufern Kapital zur Verfügung stellen«, wirft der Hamburger milde ein. »Aber ich glaube, eine Gesellschaft kann auch zusammenbrechen, wenn die Schere der Ungleichheit zu weit auseinander geht.«
    Die Franzosen, die sich bis jetzt nicht beteiligt hatten, sehen auf.
    »Zerbrechen«, korrigiert der eine krittelig.
    »Auseinanderbrechen«, sagt der andere.
    Maroushkas Ärger ist um noch einen Grad gestiegen.
    »Nein, nein! Das ist alles kommunistische Propaganda! Freier Markt ist überlegene Form von wirtschaftliche Organisation. Ich kenne Leben in Planwirtschaft. Schlechtes Essen. Schlechter Kleidung. Schlechte Häuser. Alles stinkt Kohl!« Sie rümpft die Nase. »Faule und dumme Leute kriegen Belohnung für ganzen Tag auf Hintern sitzen. Was denkst du, Sergej?«
    »Nichts«, seufzt er und denkt an den Geruch nach gekochtem Kohl und alten Räucherstäbchen, an die feuchte Mäusemuffigkeit von Solidarity Hall; schlabberige Latzhosen, formlose Baumwollröcke; das Klappern von Stricknadeln; Doro und Marcus, wie sie lachend über

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