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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marina Lewycka
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scharf auf den Posten, denn bei Chickens häufiger gewordenen Besuchen in ihrem Bereich schleimt er sich hemmungslos ein, indem er Ken nach Investitionenfragt, die über dessen Horizont hinausgehen, über Golf redet und Ken überhaupt so tief wie möglich in den Arsch kriecht. Toby ist clever und effizient, aber sein Charakter hat diese hässliche cholerische Seite, die ziemlich verstörend sein kann.
    Soweit Serge es sagen kann, sind die meisten für den Hamburger als Nachfolger von Timo Jääskeläinen (außer Maroushka, die sich selbst favorisiert), weil er am längsten dabei, ein guter Mathematiker und ein ruhiger, gutmütiger Kerl ist. Doch nach dem A-cappella-Debakel ist aus der New Yorker Zentrale eine Welle des Misstrauens gegenüber den Kontinentaleuropäern herübergeschwappt. Die auch die Franzosen betrifft, vor allem, da sie gewöhnlich freitagabends mit dem letzten Eurostar nach Paris fahren, anstatt mit den anderen zu Franco’s zu gehen.
    Lucian ist noch zu grün hinter den Ohren, womit eigentlich nur Serge übrig bleibt. Er ist ein ebenso guter Mathematiker wie Maroushka, aber er ist noch nicht lange genug hier, und er hat sich auch nicht aggressiv vermarktet, weil er keine Aufmerksamkeit auf sich lenken will. Er muss seine Position absichern, für eine Rückversicherung sorgen für den Fall, dass seine persönliche Situation ans Tageslicht kommt, und in aller Ruhe einen Fluchtplan entwerfen. Er braucht ein kleines Schutz-Portfolio – wie die Portfolios, die er für die Märkte zusammenstellt –, um einen Risikoausgleich zu schaffen und im schlimmsten Fall seine Haut zu retten. Ein Portfolio mit E-Mails zum Beispiel.
    Ich will deinen Saft schlürfen.
    Ich werde dir deinen ungezogenen Schwengel straffziehen, bis es wehtut.
    Was, wenn ...?
    Bis jetzt hat er seine Spuren verwischt, indem er die E-Mails, die er liest, als ungelesen markiert. Aber was, wenn Chicken seinen Posteingang öffnet und neue Nachrichten findet, diebereits von jemand anderem geöffnet wurden? Natürlich will Serge ihn nicht wirklich erpressen – das wäre unter seiner Würde, und riskant wäre es auch –, er will ihm nur einen kleinen Hinweis geben, dass derjenige, der Zugang zu dem Kenporter1601-Konto hatte, auch Zugang zu seinen E-Mails hat. Zum Beispiel zu dem Klassiker heute morgen von Juliette.
    Ich erwarte dich, du ungezogener Bengel, Freitag, 18.00 Uhr, und du musst jeden schmutzigen Befehl ausführen, den ich dir erteile, sonst werde ich dich bestrafen.
    Serge liest die E-Mail, und zum ersten Mal schließt er die Nachricht, ohne sie als »ungelesen« zu markieren.
    Später, als er in der U-Bahn dem Blick der abendlich geröteten Augen seiner Mitreisenden ausweicht, denkt er über die Folgen dessen nach, was er getan hat, und bricht in kalten Schweiß aus.
    Seit Timo weg ist, taucht Chicken ein-, zweimal die Woche bei ihren morgendlichen Meetings im Glaskasten auf. Er leistet zwar keinen Beitrag zur Diskussion der Algorithmen, die ihm zu hoch ist, aber dafür lässt er die Jüngeren gern an seiner Weisheit teilhaben.
    »Wisst ihr, was die wahre Gefahr für dieses Land ist?«, hört Serge ihn zu Lucie sagen, der nicht antwortet, sondern die Augen zu ihm aufschlägt und auf Erleuchtung wartet.
    Chicken lässt die Zähne aufeinander klacken. »Zu viele Frauen in Burkas. Denk mal drüber nach.«
    Lucie senkt den Kopf wie ein Messdiener bei der Kommunion.
    »Da ist was dran, Chief Ken«, schleimt Toby.
    Burkas?, denkt Serge. Ist Chicken möglicherweise leicht irre?
    »Weißt du, was mit diesem Land nicht stimmt, Freebie?«
    Chicken zieht einen Stuhl neben ihn, und Serge spürt denHasentritt der Panik in der Brust. Hat er seine E-Mails schon gelesen?
    »Äh ... das Wetter ...? Kriminalität ...? Drogen ...? Die Regierung ...? Schwache sportliche Leistungen ...? Burkas ...? Ich weiß nicht.« Er setzt sein entwaffnendes Lächeln auf.
    Eine Reihe von Regungen tanzt über Chickens Gesicht wie bei einem Flipperautomaten, während der Ball des Gedankens in seinem Kopf umhersaust.
    »Der öffentliche Sektor. Es gibt einfach zu viel von der Scheiße, Freebie.«
    »Ach ja?«
    »Beamte. Bürokraten. Sozialarbeiter. Die Wichtigtuer im Rathaus. Sesselfurzer. Büroklammernzähler. Däumchendreher ...« Sein Gesicht glüht und bebt, als die Liste wächst.
    »Was ist mit Lehrern, Kantinenköchinnen, Professoren ...?«
    »Sind nicht produktiv. Produzieren keinen Wohlstand wie du und ich.«
    »Ich?«
    »Genau. Wir zahlen für die alle. Und

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