Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
schneidet drei dicke, rosige Rhabarberstangen ab und gibt sie ihm.
»Hier, noch etwas zum Nachtisch.«
»Als ich klein war, gab es sonntags immer Rhabarberkuchen.«
Sie fragt sich, wer heute Abend den Rhabarber für ihn kochen wird. »Als Kind mochte ich keinen Rhabarber. Er war mir zu sauer. Jetzt dünste ich ihn mit Honig und Ingwer. Schmeckt köstlich. Oolie – meine Tochter – kann nicht genug davon bekommen. Sie haben sie kennengelernt, erinnern Sie sich?«
»In der Schule. Wie geht es ihr?«
»Gut. Sie arbeitet bei Edenthorpe.«
»Jeder kann einen Beitrag leisten.«
Seine Yorkshire-typischen flachen Vokale klingen so authentisch, bodenständig und liebenswürdig, er ist gewiss nicht der Typ, der mit Baulöwen und Gaunern unter einer Decke steckt. Unwillkürlich gesteht sie: »Dieser Ort ist sehr wichtig für mich – für uns. Wir haben hier so viel Schönes erlebt.«
»Leisten Sie doch noch ein bisschen mehr Überzeugungsarbeit«, sagt er mit einer Stimme, die ihr einen Schauer über den Rücken rieseln lässt.
Sie stehen einen Moment lang einfach nur da, lauschen dem Vogelgezwitscher, spüren die Kühle des Spätnachmittags, die sich auf ihre Haut legt. Und sie vergisst vollkommen, ihn nach dem zeitlichen Rahmen zu fragen oder nach den Details der Ausschreibung für die geplante Erschließung.
Serge
Warum sich entschuldigen?
Nach der Nachricht von dem gescheiterten Bail-out sind die asiatischen Aktienmärkte abgestürzt. Bankaktien sind praktisch nichts mehr wert. Leute, die Geld anzulegen haben, kaufen Gold. Doch die Quants, die am Mittwoch im Glaskasten zusammenstehen, sind mit anderen Dingen beschäftigt. Ohne Tim the Finn verbringen sie mehr Zeit hier, quatschen und tauschen Informationen aus. Der Hamburger hat eine Schachtel Mozartkugeln mitgebracht, um die Kollegen aufzuheitern. Maroushka ist in der Cafeteria und holt Kaffee für alle. Es wird richtig gesellig.
»Das weiß ich gar nicht mehr. Was habe ich gesagt?«, fragt Lucian Barton nervös.
»Du hast ihn einen miesen kleinen Proll genannt«, sagt Toby O’Toole.
»Oh Mann!« Sein sommersprossiges Gesicht zeigt Betroffenheit.
»Vielleicht kannst du dich bei ihm entschuldigen?«, schlägt der Hamburger vor und reicht die Schokolade herum.
»Entschuldigen?«
»Jawohl«, sagt Toby feierlich. »Wir gehen alle zusammen hin und hören zu, wie du dich entschuldigst. Das wäre anständig gehandelt, Lucie.«
Entschuldigen? Anstand? Was ist denn hier los?, fragt sich Serge. Es denkt doch hier sonst niemand in solchen Kategorien.
»Oh Mann!« Lucian sieht sich im Kreis der ernsten Gesichter um, als würde er darauf hoffen, dass sie endlich losprusten.
»Was meinst du, Maroushka, soll er sich entschuldigen?«, fragt Toby, als sie mit einem Tablett Kaffee hereinkommt.
»Warum entschuldigen?«
Sie stellt das Tablett auf den Tisch und reicht Zuckerpäckchen und Löffel herum.
»Dafür, dass er den Barmann einen Proll genannt hat.«
»Aber stimmt doch, oder? Er ist Proletarier.«
»Ich weiß, aber es ist unhöflich, es ihm ins Gesicht zu sagen.«
»Warum ist unhöflich, dass er Proletarier ist?« Maroushka macht dieses leicht überdrüssige Gesicht, das Serge so unwiderstehlich sexy findet. »Wenn er ist Proletarier, muss hart arbeiten, um Situation zu verbessern.«
Toby kichert offen. »Wie Lucie gesagt hat: der ganze verdammte Reichtum, den haben wir gemacht, wir haben ihn verdient!«
»Oh Mann!«
»Warum soll er entschuldigen für Wahrheit? Ist doch normal, dass schlaue Leute kriegen mehr Geld als durchschnittliche Leute. Ich studiere fünf Jahre an renommierte staatliche Technologie-Universität von Shytomyr. Ich war die Beste von Klasse. Ich verdiene Milliarden von Griwna für Blutsauger-Oligarchen. Ich sollte auch reich sein!« Maroushka dreht sich auf dem Drehstuhl um, der vorher Timo gehört hat. »Was denkst du, Sergej?«
»Ich denke ... äh ...« Er zögert, als er Maroushkas glühende Augen und rote Wangen sieht. »Ich finde, er soll sich entschuldigen. Denn egal wie schlau du bist, du hast trotzdem nicht das Recht, andere Leute zu beleidigen.« Und als er sieht, dass sie eine Schnute zieht, fügt er schnell hinzu: »Wie du so richtig gesagt hast, Maroushka.«Der Barmann, der, wie sich herausstellt, Jonas heißt, muss aus der Küche herbeigeholt werden. Verlegen kommt er herein und wischt sich die Hände an der Schürze ab. Trotz seines exotischen Äußeren hat er eindeutig einen Südlondoner Tonfall.
»Wofür soll ich
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