Die Wesen (German Edition)
Sam.
„Dann war alles umsonst“, sagte Lhatsen und setzte sich mit gesenktem Kopf auf den Boden.
„Mach dir nichts draus“, sagte Laima und wollte ihm über das Haar streichen.
„Lass mich, verflucht!“
„Erde! Wir sind doch unter der Erde“, sagte Laima mit einem Mal. „Alles hier ist aus Stein! Also muss Stein unsere letzte Tür sein!“
„Eine Tür aus Stein?“
„Sollen wir jetzt auf alle Stalagmiten und Stalaktiten drücken, bis sich hier eine Geheimtür auftut? Da haben wir aber viel zu tun!“
„Das glaube ich nicht“, sagte Laima und fuhr mit ihren Fingern über die Wand der Grotte. „Es muss etwas anderes sein“, sagte sie, als ihre Hand durch das Gestein glitt. Sie verschwand einfach in der Wand.
„Ich hab es!“, rief sie. „Seht her!“
Sie streckte ihren Unterarm in den Felsen.
„Ihr Arm ist weg!“
„Hier ist gar kein Fels. Es ist eine Illusion.“
Es kitzelte, als Laima ihren Arm zurückzog.
„Da sollen wir durchgehen?“
„Ich gehe“, sagte Laima und war schon verschwunden.
Was sie sah, war unbeschreiblich.
Eine riesige Tropfsteinhöhle erstrahlte in sanftem blauen Licht. Sie musste ihren Kopf heben, um bis zur Decke sehen zu können. Über einem kristallklaren See schwebte im Lotossitz ein übermenschliches Wesen. Allein im Sitzen maß es mehrere Meter.
Es war schmal und länglich, die Armen ruhten in seinem Schoß. Es öffnete die großen schwarzen Augen, die an seinem Kopf seitlich nach oben verliefen. Sein Blick richtete sich auf Laima. Seine Haut schimmerte in pulsierendem Blau und erleuchtete die gesamte Grotte.
Sein kleiner Mund, am großen, nach unten hin spitz zulaufenden Kopf, formte ein Lächeln. Es nickte Laima freundlich zu.
Hinter ihm bildete sich ein helles Licht, als es seine Augen wieder schloss. Die Andren stolperten in die Grotte.
Der Lichtschein hinter dem Wesen wurde immer größer. Dann teilte er sich in dünne Linien, die anfingen, Kreisen zu bilden, bis eine riesige Blume des Lebens hinter ihm entstanden war.
„Heller Wahnsinn!“, staunte Slinkssons. „Was für ein Riese!“
„Sieht aus wie ein Buddha“, sagte Sam.
„Das ist der Avatar.“
Hinter dem Avatar begann die Blume des Lebens, sich in der Höhle zu verändern.
Sie zog Sam in ihren Bann.
Sam, oder Luigi Gambretta, konnte sich ihrer hypnotischen Wirkung nicht entziehen. Sie fing an, auf ihn einzuwirken.
Dann spürte er es wie einen Schlag. Das Mandala kam auf ihn zu. Unaufhaltsam. Er versuchte, dagegen anzukämpfen, aber sein Bewusstsein war nicht stark genug.
Es öffnete sich. Das Mandala entfaltete sich zu Tausenden von Ringen und Kugeln und wieder zu Ringen zurück. Zu Ketten, die ihn umtanzten. Jeder Ring der Kette wurde wieder die Blume des Lebens und zu tausend neuen Ketten. Ihm wurde schwindelig. Er gab jeden Widerstand auf. Er saß gefangen in einem Käfig aus Kugeln und Ketten.
Er fühlte seine Schwäche. Seine Trauer. Den Hass und den Zorn. Er fühlte es so stark, dass er beinahe glaubte, zu sterben. Der Schmerz fraß ihn förmlich auf. Brannte sich wie Säure in seine Haut. Wie Tausende kleiner Rasierklingen, die ihm das Fleisch von den Knochen schälten. Gleichzeitig schrie er vor Verzweiflung.
Als er dies bis ins Tiefste seines Herzens gefühlt hatte, hörte es auf. Alle Gefühle waren weg. Er war leer. Leer wie der Raum um ihn. Kein Käfig. Es war weder hell noch dunkel. Einfach leer.
Dann bemächtigte sich etwas seiner. Es verunsicherte ihn. Es schmerzte. Es schmerzte, weil er sich immer danach gesehnt hatte. Es strömte mit Gewalt in ihn ein, wie Luft in ein Vakuum. Er nahm einen tiefen Zug. Sein Brustkorb befreite sich knackend und dehnte sich aus. Jede Faser seiner Seele fing an zu zittern. Es war die Erregung der Freude über das, was er so lange vermisst hatte. Es war Liebe.
Er hörte eine sanfte Stimme, mehr wie Bilder, die geflüstert wurden. Es war eine Gestalt. Die Gestalt einer Frau, wie er sie aus seiner Erinnerung kannte. Das Bild der Maria aus seinen Kindertagen. Es war das Bild der Mutter mit ihrem Kind. Sie war an die Stelle seiner eigenen Mutter getreten. Er fühlte ihre Worte wie einen warmen Wind, sanft und liebevoll.
Fürchte dich nicht vor dem, was du sehen wirst. Es wird dir Schmerz bereiten, aber es wird dir helfen, zu verstehen. Er fühlte Vertrauen. Er fühlte sich wie ein Kind. Ihr Kind.
Ich bin aber nicht deine Mutter, spürte er die Stimme sagen.
Er sah eine dunkelhäutige junge Frau auf einem
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