Die Wesen (German Edition)
hinaufzusteigen, wie noch vor wenigen Minuten, die seine Beine weich werden ließ.
Die Worte drangen durch den Nebel viel schlechter nach oben als nach unten.
Er hatte aus Leibeskräften geschrien, bis er dachte, seine Stimmbänder bluteten.
Dann spürte er, dass sich eine Last am Seil bewegte. Eine schwere Last, die keinen andren Schluss zuließ, als dass sie ihn nicht verstanden hatten. Es bedeutete, dass Sam ‚The Rock’ Jackson sich zu ihm auf den Weg gemacht hatte. Es bedeutete, dass dies sein Todesurteil war. Ebenso hätte er sich in die tödlichen Fluten stürzen können wie ein Lemming. Aber er war wie gelähmt von dem Bild, das sich ihm aufdrängte. Es war aus seinem Unterbewusstsein aufgestiegen. So klar, dass er daran nicht zweifeln konnte. Warum es ihm gerade jetzt kam, wusste er nicht. Es musste Schicksal sein. Und so fügte er sich. Es gab keinen Ausweg. Aber die Todesangst blieb.
17
Um ihn herum war alles in unwirkliches Grau getaucht. Dann sah er ihn durch den Nebel kommen. Das Boot schaukelte, als Sams schwerer Körper auftraf. Jetzt war er allein mit ihm hier unten im Canyon.
„Was ist? Warum glotzt du mich so an?“
Sam schnallte Schüssli die Gurte um. Dann band er ihn sich an den Gürtel. So stiegen sie auf.
Wie die Beute eines Raubtiers kam sich Roger Schüssli vor. Er baumelte am Gürtel seines Jägers, noch nicht tot, aber gelähmt vor Angst.
„Nun lass dich nicht so hängen!“
„Du warst es“, sagte Schüssli. „Du hast den Fallschirm im Flugzeug unter deiner Jacke getragen.“
Sam hielt inne.
Sie waren bereits gut den halben Weg herauf. Schüssli hätte nur etwas warten müssen, aber die Panik übermannte ihn.
„Hilfe!“, schrie er, so laut es seine Kehle zuließ. „Sam ist der Saboteur! Zieht mich rauf!“
Er spürte, wie Sam sich über ihm bewegte. Ein kleines Taschenmesser blitzte im fahlen Licht des Nebels auf.
„Ich schneide das Seil einfach durch. Es wird wie ein Unfall aussehen.“
Schüssli begann wild zu zappeln. Gleich würde er in die Tiefe stürzen.
Sam klappte das Messer zu und steckte es wieder ein.
„Halt einfach die Schnauze, wenn jemand dir das Leben retten will“, sagte er und zog sie hoch. „Sonst geht es vielleicht wirklich nochmal schlecht für dich aus, Hosenscheißer!“
Als sie oben ankamen, wurden sie mit Jubel begrüßt.
„Was ist los, Roger?“, fragte von Stein. „Was machst du für ein Gesicht? Willst du dich nicht bei Sam bedanken?“
„Das hat er schon“, sagte Sam. „Auf seine Weise!“
Dann machte Sam sich wieder an den Abstieg, um die Ausrüstung zu holen.
Später wechselte er sich mit Slinkssons ab. Und bis sie alles heraufgeschafft hatten, war es bereits Nacht geworden. Das Letzte waren die Boote, die sie alle gemeinsam am Seil heraufzogen. Es waren extraleichte Trekkingboote, sodass sie alle in einem Bündel heraufbrachten.
Sie waren so erschöpft, wie zu keinem anderen Zeitpunkt der Expedition und zu keiner anderen Zeit in ihrem Leben überhaupt, kam es Laima vor. Niemand hatte während der letzten Stunden mehr als die nötigsten Worte gewechselt.
„Was ist das?“, fragte Laima.
Alle lagen erschöpft auf dem Rücken. Niemand war auch nur willens, einen Finger zu rühren.
„Da! Da leuchtet was. Eine Lampe?“ Laima war sich nicht sicher, ob ihre übermüdeten Augen ihr einen Streich spielten.
„Da kommt jemand“, sagte Sam.
Ein Mann und ein Junge erschienen in der Dunkelheit. Sie trugen Eimer bei sich, in denen daumendicke Glühwürmchen zu Hunderten waberten. Der Mann bedeutete ihnen durch Handzeichen, ihm zu folgen. Sie taten es, auch wenn sie sich kaum auf den Beinen halten konnten. Unterwegs sammelten der Mann und der Junge immer wieder leuchtende Larven ein, die wie Laima jetzt erkannte, überall in der Landschaft verstreut waren. Mal hinter einem Stein. Mal unter einer dünnen Schicht Moos. Nachts schienen sie, wegen ihres Leuchtens, besonders leicht zu finden.
Lange mussten sie nicht gehen, als eine Jurte vor ihnen auftauchte. Rauch stieg aus einem kleinen Schornstein in die Nacht. Um die Jurte herum bewegten sich träge, große Schatten. Der Mann winkte, schlug einen Vorhang zur Seite und bat sie ins gemütliche und warme Innere des großen Rundzeltes.
In der Mitte, zwischen den zwei Stangen, die das Zeltdach stützten, kochten Kessel auf einem kleinen Herd. Eine Frau rührte in einem der Töpfe. Sie wirkte wenig überrascht, sondern lächelte nur, als die zahlreichen
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