Die Wesen (German Edition)
vorgefasste Meinung aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen. Sie urteilen bereits, wenn sie den Angeklagten nur sehen. Was soll man da machen?“
„Am besten einen Bogen um die Wissenschaft“, sagte Slinkssons.
„Das sagt gerade der Richtige, mein lieber Figaro!“
Ihr Gastgeber, Tsin, schenkte ihnen noch von dem Buttertee nach, obwohl sie noch nicht die Hälfte ausgetrunken hatten. Dann sprach er zu von Stein. Thian übersetzte.
„Tsin freut sich sehr, dass wir so ein reges Interesse an seiner Kultur haben, und möchte uns deswegen zum Geisterfest einladen, das morgen stattfinden wird.“
„Das ist doch Mist“, sagte Sam.
„Außerdem möchte seine Frau uns eine Geschichte erzählen. Sie ist berühmt dafür. Es ist die Legende vom gesalzenen Buttertee.“
Tsins Frau kam und setzte sich in ihre Mitte. Sie sagte vorweg ein paar Worte, bevor sie mit der eigentlichen Geschichte anfing.
„Sie sagt, man muss dazu wissen“, sagte von Stein, „dass das Salz für den Buttertee aus der Ebene des Changtang kommt.“
Dann begann sie.
„Die Legende erzählt von zwei Fürstenkindern, einem Jungen und einem Mädchen. Sie waren durch ein tiefes Wasser voneinander getrennt. Sie konnten nicht zueinanderfinden, da der reißende Fluss die Steppe durchschnitt, wobei der Stamm des Mädchens auf der einen und der des Jünglings auf der anderen Seite lebte.
Zudem waren beide Stämme auf das Tiefste verfeindet. Als sei das nicht schon genug, um sich gegen die Liebenden zu stellen, tat auch die Mutter des Mädchens alles nur Erdenkliche, um die Vereinigung der beiden zu verhindern. Jedes Mittel war ihr recht, sie zu entzweien. Dennoch vermochten weder das Wasser noch die Feindschaft der beiden Stämme, sie zu trennen.
So ließ die Mutter den jungen Fürstensohn heimtückisch ermorden. Als ihre Tochter dies erfuhr, fiel sie in so unermessliche Trauer, dass sie sich im Fluss das Leben nahm.
Die Götter entschlossen sich daraufhin, die zwei Seelen der Liebenden in Vöglein zu verwandeln, die sich von einem zum anderen Ufer süße Liebeslieder zusangen und so ihre Herzen wieder aufs Neue vereint waren.
Als die böse Mutter dies bemerkte, überkam sie rasende Wut. Sie sandte einen Jäger aus, die beiden zu töten.
Die liebenden Seelen verwandelten sich mit der Gunst der Götter erneut und wurden zu zwei Weidenbäumen, die zu beiden Seiten des Flusses grünten. Mit der Zeit gediehen sie so prächtig, dass sie über den Fluss wuchsen und ihre Kronen sich vereinigten. Ihre Äste und Zweige wuchsen zusammen und verschlangen sich, sodass ihre Liebe erneut gesiegt hatte.
Dies weckte den Hass der Mutter so sehr, dass sie selbst zur Axt griff und beide Bäume fällte.
Daraufhin beschlossen die zwei Seelen in unterschiedliche, weit entfernte Länder zu ziehen, wo sie sicher waren vor der Rache und der blinden Wut der Mutter.
Das Mädchen zog Richtung China, wo sie sich niederließ und in einen Teestrauch verwandelte. Der Jüngling flüchtete gen Norden, weit in die einsame Steppe des Changtang. Dort erstarrte seine Seele auf dem kargen Boden zu Salz, wie man es dort allenthalben findet.
Und immer wenn wir eine Tasse gesalzenen Tee zu uns nehmen, vereinen sich beide Liebenden bis in alle Ewigkeit.“
Als Laima am nächsten Morgen aufwachte, saß eine alte Frau vor ihr und schwang eine Gebetsmühle. Sie murmelte vor sich hin, während sich die Mühle, auf dem Griff in ihrer Hand, wie von selbst um die eigene Achse drehte, angetrieben von einem kleinen fliegenden Gewicht an einer Kette, das wie ein Planet darum kreiste. Langsam begriff Laima, dass sie sich in einer Jurte befand, mitten in der tibetischen Weite. Die Erinnerung an die Flussfahrt kehrte zurück, an die gelbe Larvensuppe. Erstaunlicherweise fühlte sie sich ausgeruht und gestärkt. Ein schauriges Gefühl überkam sie, wenn sie daran dachte, was gestern passiert war. Mehrfach waren sie dem sicher geglaubten Ende entflohen. Die Gedanken daran ließen die Angst wieder aufsteigen, die sie verdrängt hatte, die ihr Gehirn schlicht unterdrückt hatte. Jetzt war sie allerdings hier in der Jurte, unter warmen Decken, befand sich in Sicherheit und sah der alten Frau zu, wie sie unermüdlich betete. Sah, wie Tsins Frau den Ofen heizte, einen Teeziegel in der Schale zu Pulver zerrieb, um ihn anschließend im heißen Wasser aufzukochen.
Sie dachte an die Legende des Buttertees. Sie war so schön, dass sie sich schon auf eine Tasse des heißen, salzigen Getränks freute. Sie
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