Die Wesen (German Edition)
Gäste eintraten. Einige Kinder spielten in einer Ecke. Die Wände waren mit prächtigen bunten Teppichen behängt. Das ganze Zelt war in einzelne Bereiche aufgeteilt. Ein Altar befand sich gegenüber dem Eingang.
„Ich habe mir so ein Nomadenzelt gar nicht so groß vorgestellt“, sagte Sam.
Der Mann und sein Sohn legten ihre Mäntel ab.
Thian sagte etwas zu von Stein.
„Thian sagt, es gilt als unhöflich, länger als nötig zu stehen.“
Daraufhin setzten sich alle.
„Was bin ich froh, im Warmen zu sitzen“, sagte Slinkssons und streckte sich.
Thian beugte sich zu von Stein und flüsterte ihm etwas zu.
„Man darf die Füße nicht in Richtung des Altars strecken, Slinkssons.“
„Kruzifix noch eins! Da will man sich gerade ein bisschen entspannen, nachdem man dem Sensenmann ein Schnippchen geschlagen hat, und wird gleich mit einem Haufen Regeln überschüttet. Kann man sich denn hier drinnen gar nicht frei bewegen?“
„Thian sagt, es gibt über hundert Regeln in der Jurte. Das waren nur zwei, die sie geschafft haben, sofort zu brechen.“
Figaro Slinkssons setzte sich widerwillig ordentlich in den Schneidersitz.
Der Nomade redete mit Thian, der dann von Stein übersetzte.
„Er heißt Tsin und wir sind seine Gäste.“
Dann schütteten Tsin und sein Sohn einige von den Würmern aus ihren Eimern in einen der kochenden Töpfe. Die leuchtende Farbe löste sich, sobald die Würmer ins heiße Wasser fielen, und färbte die Suppe neongelb.
„Was sind das?“, fragte Laima.
Nach einigem Hin und Her sagte von Stein: „Das ist die Larve einer Raupe. Sie wird von einem Parasit befallen. Der Pilz frisst die Raupe bei lebendigem Leib von innen nach außen auf. Die befallenen Raupen heißen Yarsagumbu und sind nicht nur eine Delikatesse, sondern haben einen medizinischen Nutzen, sagt Tsin.“
„Das heißt doch nicht, dass wir eingeladen sind, oder?“, fragte Schüssli.
„Ich fürchte schon“, sagte von Stein. Kurz darauf wurden mehrere Schüsseln mit Yarsagumbu-Suppe gefüllt und an jeden von ihnen weitergereicht.
„Ich habe mal von diesem tibetischen Raupenpilz gehört“, sagte Professor Carlsen. „In China und Japan werden sie zu horrenden Preisen als Potenzmittel verkauft.“
„War ja klar!“, sagte Slinkssons. „Bei den Chinesen muss es in dem Bereich wirklich schlecht laufen, bei dem, was die alles für ihre Potenz brauchen. Könnten die sich nicht mal langsam auf Viagra umstellen?“
„Yarsagumbu wird nicht nur als Stärkung für alte Männer eingesetzt. Es wurde auch erfolgreich zur Leistungssteigerung von Leichtathleten verwendet. Es konnte tatsächlich ein medizinischer Zusammenhang zwischen dem Raupenpilz und einer gesteigerten Energieversorgung nachgewiesen werden. Es soll auch die Abwehrkräfte stärken und Heilung beschleunigen.“
„Davon wird die Sache auch nicht appetitlicher.“
Sie starrten jeder in seine Schale.
„Ihr könnt euch denken, dass eine Ablehnung des Essens ebenfalls gegen die guten Sitten verstößt?“
„Schon klar“, sagte Slinkssons und schlürfte als Erster die stechend gelbe Suppe. „Also schmeckt gar nicht so übel.“
„Muss ich als Koch auch sagen.“
„Bei dem, was du kochst, ist das auch kein Wunder“, sagte Slinkssons.
Laima versuchte, nicht auf die glibberigen Würmer zu beißen, sondern sie im Stück herunterzuschlucken. Sie sah, dass es den andren nicht besser ging. Gerold von Stein und der Professor waren die Einzigen, die munter draufloskauten. Allerdings mahlten auch ihre Kiefer bald immer langsamer und langsamer. Und auf eine Ermunterung ihres Gastgebers hin, lehnten sie mit freundlichem Lächeln den Nachschlag ab.
Während sie noch aßen, zerstieß Tsins Frau in einer Schale eine kleine schwarze Tablette.
„Was ist das?“, fragte Laima.
„Ein Teeziegel, nehme ich an“, sagte von Stein.
Sie schüttete das Pulver in den Wasserkessel, der auf dem Ofen kochte. Kurz darauf goss sie das bräunliche Wasser in ein längliches, schmales Fass und gab Butter und etwas Salz dazu. Dann stampfte sie alles mit einem langen Holz in geübten, schnellen Bewegungen. Den Inhalt goss sie in eine große Teekanne.
„Das muss der salzige Buttertee sein“, sagte von Stein.
Jedem von ihnen wurde eine dampfende Tasse gereicht.
„Das riecht ja noch übler als die Suppe. Irgendwie nach Tier.“
„Yak, um genau zu sein. Das ist Yakbutter!“
„Schmeckt wie salziges Fritteusenfett“, sagte Slinkssons.
„Dafür ist es gut für die
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