Die Wesen (German Edition)
hatte sogar von der Geschichte geträumt. Sie war die Prinzessin gewesen und Chang der Jüngling, der nicht zu ihr finden konnte. Ein Untier hatte sie gejagt. Immer wieder war sie zu Tode gekommen. Immer wieder hatte das Monstrum sie gefressen.
In einer Ecke schlief Professor Carlsen und schnarchte. Vor ihm hockten die Kinder und zupften an seinem Bart. Sie kicherten und lachten. Als Tsin hereinkam, schimpfte er laut.
Der Professor wachte auf und die Kinder flohen schnell zurück in ihren Teil der Jurte. Hinter Tsin betraten Sam und die andren das Zelt.
„Warum haben die Kinder sich so über den Bart des Professors amüsiert?“
„Es ist in Tibet eine Seltenheit“, sagte von Stein. „Ist ihnen noch nicht aufgefallen, dass die Männer hier keinen Bartwuchs haben?“
„Sie gehören zu den Mongoliden wie die Indianer“, sagte Professor Carlsen und gähnte.
„Ein Bart gilt in Tibet als Zeichen von Unsauberkeit“, sagte von Stein.
„Wo kommt ihr denn so früh her?“, fragte Laima.
„Früh ist gut“, sagte Schüssli. „Wir haben mit Tsin zusammen unsre ganze Ausrüstung hergeschafft.“
„Wir werden mit den Vorbereitungen zum Fest beginnen“, sagte Slinkssons.
„Aber erstmal eine schöne Tasse Buttertee“, sagte von Stein genüsslich.
Laima beschloss, bis der Buttertee fertig war, einen Blick nach draußen zu werfen.
Als sie vor die Jurte trat, erwartete sie ein überwältigender Anblick. Die sanfte, hügelige Steppe lag im hellen Sonnenlicht. In der Ferne erhoben sich die Berge. Große zottelige Yaks grasten friedlich. Eine Herde Ziegen. In der Entfernung sah sie, dass sich weitere Yakherden, zusammen mit Menschen, aus allen Himmelsrichtungen näherten. Die Yaks waren beladen und viele der Gruppen schlossen sich zusammen.
„Da kommt ein Haufen Leute mit ihren Yaks“, sagte sie aufgeregt, als sie zurück ins Zelt kam.
„Heute ist doch das Geisterfest“, sagte Sam. „Sie kommen zum Feiern.“
„Glaubst du jetzt doch an Hungergeister?“, sagte Laima und schnippte vor dem Trinken etwas vom Buttertee Richtung Altar, wie Tsin es getan hatte.
„Nein, aber es gibt Tsang, Gerstenbier.“
„Und Schnaps?“, sagte Professor Carlsen.
„Dass ihr Männer so früh am Morgen nur an Alkohol denken könnt.“
„Zum Feiern ist mir jeder Grund recht“, sagte Sam. „Ob Geisterfest oder Weihnachten. Egal. Hauptsache hoch die Tassen. Prost!“
Er stieß mit seinem Becher in die Luft.
Mit lautem Pfeifen und Gejohle kündigten die Nomaden ihre Ankunft schon von Weitem an. Die Wiedersehensfreude war groß. Tsin stand bei allen in hohem Ansehen. Es wurde Gerstenbier und Schnaps getrunken.
Dann stellten sie draußen einen kleinen Altar auf. Auf dem Schrein wurden Räucherwaren verbrannt. Es roch nach Wacholder. Speisen wurden als Opfergabe abgestellt. Holzmasken, die grässliche Fratzen darstellten, hing man auf. Dann bespritzten sie den gesamten Altar mit Schnaps und Bier. Geldscheine wurden in die Mäuler der Masken gesteckt und angezündet.
„Probieren sie es!“, sagte Laima zu Sam.
„Dafür ist mir mein Geld zu Schade.“
„Dann steckt noch ein Hungergeist in ihnen“, sagte Laima und stach ihm mit dem Finger in den Bauch. „Kann den Hals nicht voll kriegen, will nichts abgeben. Man befreit sich davon, wenn man einfach einen Schein anzündet“, sagte sie und steckte eine Banknote in die Maske, um sie anzuzünden.
„Es ist ja nur einer. Symbolisch. Wenn man es macht, merkt man, dass es gar nicht so schlimm ist. Dass wir gar nicht so sehr daran festhalten müssen an diesem Papier, dem wir uns so gerne freiwillig als Sklaven unterwerfen.“
„Es ist auch die Angst, nie genug zu haben“, sagte Figaro Slinkssons, der neben ihnen auftauchte.
„Und damit befreien wir uns von der Angst. Wir überwinden sie“, sagte Laima.
„Das klingt ja mehr nach Psychologie, als nach Hungergeistern“, sagte Sam.
„Spielt es denn eine Rolle, wie man es nennt?“, sagte Laima. „Vielleicht ist ja beides ein und dasselbe?“
Immer mehr Menschen strömten zusammen. Ein Yak wurde geschlachtet, mehrere Ziegen. Jurten wurden aufgebaut. Es wurde gekocht. Es war ein riesiges Durcheinander und immer weitere Schreine und Altäre wurden überall aufgestellt. Dann wurden die Ernten der Yarsagumbu-Raupen verglichen, wer wie viel geerntet hatte. Die Kinder spielten mit den abgetrennten Hörnern der Ziegen und imitierten Kämpfe. Überall wurde getrunken und gegessen, bis ein lautes Signal
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