Die widerspenstige Braut
äußerst verlockend. Dann schüttelte sie den Kopf und trottete zögerlich mit gesenkten Augen ins Zimmer.
Er beherrschte sich mit Mühe, ihr keinen scharfen Befehl zu erteilen, anständig zu gehen: Kopf hoch, Schultern gerade!
Wenn er ehrlich wäre – und wenn Samantha hier wäre, würde sie darauf bestehen, dass er ehrlich wäre –, verkörperte er allerdings zurzeit auch nicht gerade den Inbegriff militärischer Haltung.
Mara stellte sich vor seinen Schreibtisch und starrte ihn nun mit großen Augen an.
»Um was geht es, Mara?«
Mit ungläubiger, zittriger Stimme fragte sie: »Vater, hast du geweint?«
»Nein. Ich habe nicht geweint.« Nicht seine Augen, aber sein Herz.
Sie griff in ihre Rocktasche und zog einen zierlichen goldenen Rahmen hervor. Ihre Hand zitterte, als sie ihn über den Schreibtisch schob.
Er packte ihr schmales Handgelenk.
Es war die Miniatur seiner Frau.
»Wo hast du sie gefunden?«
»Ich habe sie nicht gefunden.« Sie holte bebend Luft. »Ich habe sie genommen.«
Seine Finger ließen ihr Handgelenk frei. Sein Verstand war wie ausgelöscht. Er wusste nicht, was er denken sollte. Was er sagen sollte. Er betrachtete das Gemälde von Mary in dieser schmalen, zitternden Hand.
Seine eigene Tochter. Sein eigen Fleisch und Blut. Einmal ein Dieb, immer ein Dieb. Schwarz ist Schwarz, und Weiß ist Weiß, und irgendwelche grauen Schattierungen existierten nicht.
Er brachte nur mit Mühe ein Wort heraus. »Hast du all die fehlenden Dinge von Mama genommen?«
Mara nickte. Sie war so weiß, dass ihre Haut beinahe grün wirkte. Ihr Mund arbeitete, als versuchte sie, einen Schrei zu unterdrücken. Er sah, wie sie schluckte.
Was hatte sie getan?
Er erhob sich.
Mara wich zurück, ein kleines Mädchen, das ihren ganzen Mut zusammengenommen hatte, um ihrem Vater gegenüberzutreten und ihm die Wahrheit zu sagen.
Er bewegte sich langsam und vorsichtig, überlegte sich jedoch, dass er sie nicht noch mehr ängstigen wollte, und setzte sich deshalb wieder. Einladend schob er seinen Stuhl etwas zurück und klopfte sich aufs Knie. »Komm und erzähl deinem Papa alles.«
Kapitel 29
Die Kutsche rumpelte die Berge hinunter. Bei jeder Kurve wurde Samantha an die Seite der Kabine gepresst, und alle neben ihr sitzenden Passagiere quetschten sie zusätzlich ein. Als die Kutsche wieder geradeaus fuhr, rutschten alle wieder in ihre normalen Sitzpositionen und warteten grimmig auf die nächste Kurve, in der sie auf den überfüllten Sitzen nahezu übereinander kugelten. Acht Leute: vier, die mit dem Rücken zur Fahrtrichtung saßen, und vier, die das Geschehen von vorne genießen durften. Sechs Männer, zwei Frauen, alles gleichermaßen leidende Passagiere, die in einer stickigen Kutsche saßen, weil alle Fenster geschlossen waren, um den Straßenstaub fern zu halten. Und alle erwarteten sehnsüchtig ihre Ankunft in York.
Samantha starrte aus dem Fenster der Kutsche und gab sich alle erdenkliche Mühe, froh darüber zu sein, dass sie diese zerklüfteten Felsen hinter sich lassen konnte. Sie hasste das Land.
Sie hatte es immer gehasst, mit seiner frischen Luft, dem pieksenden Gras und den Fleischfressern, die nur darauf warteten, ein unaufmerksames Mädchen zu verschlingen. Ja, sie konnte es kaum erwarten, wieder in London zu sein mit seinem konstanten Lärmpegel, dem Geruch von verfaultem Müll und dem schmutzigen Nebel, der alles, von den Gebäuden bis hin zu den besten Handschuhen einer Frau, schwarz färbte. Adorna würde nicht glücklich darüber sein, sie zu sehen …
»Brrr!«, hörte sie den Kutscher rufen. »Brrr!«
»Warum halten wir?« Der Bürger aus Edinburgh schob das Fenster herunter und streckte seinen Hals hinaus. »Ach, ist nur ein Baum, der auf der Straße liegt.«
Die Passagiere stöhnten.
Samantha versuchte, ihre plötzliche Freude zu unterdrücken. Der Baum bedeutete eine unnötige Verzögerung, eine Unannehmlichkeit … und eine, die ihren Aufenthalt hier im Lake District um ein paar Minuten verlängerte. Minuten, in denen sie auf der Straße stehen und auf den Devil’s Fell blicken konnte, auf die Wasserfälle, auf die Trockensteinmauern … und heimlich Abschiedstränen weinen konnte. Denn unabhängig davon, was sie sich einredete, die Wahrheit war, dass sie diese Region ziemlich schätzen gelernt hatte. Oder eher – die Menschen, die ihr hier begegnet waren.
»Anhalten und her mit dem Zeug!«, erscholl ein scharfer Befehl neben der Straße.
Anhalten und her mit dem
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