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Die Widmung: Roman (German Edition)

Die Widmung: Roman (German Edition)

Titel: Die Widmung: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brunonia Barry
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dass das Boot gegen den Pier krachte. Sie machte es fest, vertäute Bug und Heck und kletterte über die Felsen an den Strand. Dann schlug sie sich zur Straße durch und lief Richtung Bahnhof, ein wenig humpelnd, weil ihr der Knöchel wehtat, aber in Anbetracht der Umstände war es gar nicht so schlimm.
    Zee wollte mit dem Zug zurück nach Salem, nur fuhren um diese Uhrzeit keine Züge mehr. Sie überlegte, ob sie am Strand schlafen sollte. Es war eine warme Nacht. Es wäre ungefährlich gewesen. Aber sie wollte ihren Vater nicht beunruhigen, Sorgen hatte er derzeit schon genug. Und sie wollte auf keinen Fall in der Nähe von Manchester sein, wenn das gestohlene Boot gefunden wurde.
    Also beschloss sie, per Anhalter nach Salem zurückzukehren. Nicht sonderlich schlau, dachte sie, als sie auf den Chevy Nova zuging, der knapp zwanzig Meter vor ihr angehalten hatte und nun energisch rückwärtsfuhr.
    Eine Frau nahm sie mit, schätzungsweise Mitte vierzig, ein wenig übergewichtig, mit langen Haaren und blauen Augen, die im Licht der vorbeifahrenden Autos leuchteten. Zuerst erklärte die Frau, sie würde nur bis Beverly fahren. Aber dann überlegte sie es sich anders und beschloss, Zee ganz nach Hause zu bringen, damit Zee nicht auch die restliche Strecke per Anhalter fahren und womöglich von einem Mörder oder Vergewaltiger aufgegabelt würde.
    Während der Fahrt über die Route 127 erzählte die Frau Zee jede Horrorgeschichte, die sie jemals über Anhalter gehört hatte, und wollte Zee das Versprechen abnehmen, nie mehr zu trampen. Zee versprach es, nur damit die Frau Ruhe gab.
    »Das sagen sie alle, und dann machen sie es trotzdem wieder«, sagte die Frau.
    Zee wollte ihr erklären, dass sie sonst nie per Anhalter fuhr, dass sie kein typisches Opfer war und dass sie das in dieser Nacht nur getan hatte, um eine von ihr begangene Straftat zu vertuschen – Grand Theft Boato. Aber sie wusste nicht, welche abschreckenden Geschichten ein solches Geständnis womöglich noch zusätzlich auslösen könnte, also hielt sie lieber den Mund.
    Beim Aussteigen drehte sich Zee noch einmal zu der Frau um. Statt sich zu bedanken, sagte sie mit einer Stimme aus einer Zeichentrickserie, die sie als kleines Mädchen immer am Sonntagvormittag gesehen hatte: »Willst du meine Mami sein?«
    Das sollte nur ein Spaß sein. Aber die Frau verkraftete das nicht. Sie brach in Tränen aus und weinte hemmungslos.
    Zee beteuerte, sie habe das nicht ernst gemeint. Sie habe eine eigene Mutter, sagte sie, auch wenn das nicht stimmte, nicht mehr.
    Keines ihrer Worte konnte die Tränen der Frau stoppen, und so sagte sie schließlich, was sie die ganze Zeit schon hätte sagen sollen: »Danke fürs Mitnehmen.«
    Zee hatte der Frau natürlich eine falsche Adresse genannt – sie wollte nicht, dass sie auf dumme Gedanken kam und womöglich auf ein Wort mit Finch ins Haus ging. Sie hatte sich im Schatten verstecken wollen, bis die Frau weggefahren war, um dann durch die angrenzenden Gärten nach Hause zu gelangen. Aber am Ende lief sie einfach auf der Straße weiter. Die Frau weinte zu heftig, um zu bemerken, wo Zee hinging oder wie sie dort hinkam.
    Zehn Jahre später, als Zee eine Ausbildung zur Psychotherapeutin machte (ihren zweiten Vornamen Turbostress hatte sie mittlerweile abgelegt), sah sie diese Frau in einer der Panik-Gruppen wieder, die ihre Mentorin Dr. Liz Mattei leitete. Die Frau erinnerte sich nicht an sie, aber Zee hätte sie überall erkannt – es waren dieselben durchscheinenden blauen Augen, immer noch feucht. Die Frau hatte ein Kind verloren, eine Ausreißerin im Teenageralter. Bei der Tochter war eine bipolare Störung diagnostiziert worden, genau wie bei Zees Mutter Maureen, aber sie hatte sich geweigert, Lithium zu nehmen, weil es dick mache. Zuletzt war sie beim Trampen auf der Route 95 gesehen worden, Richtung Süden, mit einem selbstgemalten Schild mit der Aufschrift NEW YORK in der Hand.
    Es war Ende 2001 gewesen, und das Verschwinden der Tochter der Frau lag zehn Jahre zurück. Vor kurzem waren die Twin Towers eingestürzt. Die Panik-Gruppe hatte sich vergrößert, aber die ursprünglichen Mitglieder waren seltsamerweise ruhiger und hilfsbereiter den anderen gegenüber geworden, als hätte ihre unbestimmte, vage Angst endlich Gestalt angenommen und der Rest des Landes würde nun auch das Entsetzen empfinden, das sie schon jahrelang Tag für Tag verspürt hatten. Zum ersten Mal seit Zee denken konnte, sahen die Leute in der Gruppe

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