Die Widmung: Roman (German Edition)
gäbe.
»Unbefriedigend«, sagte Mattei. Normalerweise schien sich Mattei nicht das Geringste um Lilly Braedon zu scheren. Aber Zee hatte bei ihrer letzten Besprechung etwas gesagt, das ausnahmsweise einmal ihr Interesse geweckt und sie zu einer Frage veranlasst hatte. Als Zee nun sagte, nichts habe sich verändert, wollte Mattei das nicht gelten lassen.
»Heißt das, Lilly ist in einer normalen Phase?« Mattei bezog sich auf Lillys bipolare Störung. Mit bipolaren Störungen kannte sich Zee nur zu gut aus. Genau diese Diagnose hatte ihre Mutter vor Jahren bekommen, nur nannte man damals jemanden, der unter einer solchen Störung litt, manisch-depressiv, was Zee immer für eine bessere Beschreibung gehalten hatte. In den meisten Fällen war die Störung gekennzeichnet durch starke Stimmungsschwankungen, gefolgt von relativ normalen Phasen.
»Normal würde ich nicht sagen«, meinte Zee.
»Gibt es wieder Probleme mit der Polizei von Marblehead?«
»In letzter Zeit nicht«, sagte Zee.
»Na, das ist doch schon mal was.«
Um 3:35 Uhr war Lilly immer noch nicht da. Zee ging ans Fenster. Auf der anderen Seite des Storrow Drive saß eine Obdachlose auf einer Bank, aber am Charles River war niemand unterwegs. Es war zu heiß und feucht, um sich zu bewegen. Der Verkehr floss zäh, die Fahrer hupten und waren genervt, sie wollten auf die Straßen nach Norden kommen. Die »Pappbrücke«, wie Zee die Craigie Bridge nannte, sah aus wie eine schlechte Arbeit aus dem Kunstunterricht für die vierte Klasse. Jahrelang hatte sich Ruß an den falschen Stellen gesammelt, und der Dunst heute ließ die Brücke noch platter, eindimensionaler und unechter wirken als je zuvor.
Um 3:45 Uhr rief Zee bei Lilly an. Marblehead hatte die Amtsvorwahl 631. Früher war es NE 1, hatte Lilly ihr erzählt, als sie ihre Telefonnummer für die Kartei aufschrieb. » NE für Neptun – Sie wissen schon, Neptun, der römische Meeresgott?«
Zee dachte an ihre Schulzeit zurück. Neptun beziehungsweise Poseidon, Gott des Meeres und Gemahl der Amphitrite – der zweite Vorname von Zees Mutter. Maureen Doherty war zwar ein ausgesprochen irischer Name, aber Zees Großmutter hatte all ihren drei Kindern als zweiten Vornamen die Namen griechischer Götter und Göttinnen gegeben. Daher hieß Zees Mutter Maureen Amphitrite Doherty. Onkel Mickeys zweiter Vorname lautete Zeus, und Onkel Liam, der noch vor Zees Geburt in Irland gestorben war, hieß Antäus, ein eindeutiger Vorbote der mythenbildenden Gewalt in seiner Zukunft. Zee wusste noch, wie Maureen Onkel Mickey wegen seines zweiten Vornamens gehänselt hatte. »Na hör mal, welche Mutter hält ihren Sohn nicht für einen Gott?«, hatte Mickey geantwortet. Stimmt , dachte Zee.
Zee zwang sich zurück in die Gegenwart. In letzter Zeit schweifte sie gedanklich ständig ab. Nicht nur mit Lilly ging es ihr so, sondern mit all ihren Patienten. Es kam ihr vor, als würden sie dieselben Geschichten immer wieder erzählen, bis Zee eher die Arbeit eines Detektivs zu leisten hatte. Der Schlüssel lag nicht in den Geschichten selbst, zumindest nicht in denen, die sie erzählten und andauernd noch mal erzählten. Eher waren es die Variationen ihrer Geschichten, die kleinen Details, die sich bei jedem Erzähldurchgang änderten. Diese Details waren häufig der Schlüssel zu den Problemen, die tief unter der Oberfläche lagen. An welcher Stelle erzählte der Patient nicht die Wahrheit?
»Jeder lügt«, lautete ein weiterer von Matteis Lieblingssprüchen.
Und so lauschte Zee, während die Wochen verstrichen, Lilly und den Variationen ihrer Geschichten, die sie wieder und wieder erzählte. Aber an dem Tag, an dem Lilly Neptun erwähnte, da berichtete sie etwas, das Zee noch nie zuvor gehört hatte.
»Früher, bevor die Telefone in Marblehead Wählscheiben hatten, als die Vermittler immer die vier Silben ›Welche Nummer‹ näselten, da musste man ›Neptun 1‹ für eine Amtsleitung nach Marblehead sagen.« Lilly selbst war viel zu jung, um sich an Telefone ohne Wählscheiben und an Telefonvermittlungen zu erinnern, aber aus irgendeinem Grund schien sie diese Bagatelle wichtig zu finden.
»Hat Neptun eine besondere Bedeutung für Sie?«, fragte Zee.
Lilly verzog das Gesicht. »Ich hatte immer Angst vor Neptun«, sagte sie. »Neptun ist ein rachgieriger Gott.«
Um 5:20 Uhr wählte Zee die Nummer ihrer Hochzeitsplanerin. »Es tut mir wirklich sehr leid, aber ich muss wieder absagen, mein Fünf-Uhr-Termin hat sich
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