Die Widmung: Roman (German Edition)
einander an. Und als die Frau von ihrer Tochter erzählte, wie in jeder Woche, seit sie sich trafen, hörte ihr die Gruppe endlich zu.
Die ganze Welt kann sich drehen, einfach so! , sagte die Frau.
Von einem Augenblick zum anderen , antwortete jemand.
Taschentücher wurden herumgereicht. Und zum ersten Mal weinte die Gruppe gemeinsam, sie weinten um die Tochter und um ihren unvermeidlichen Verlust der Unschuld und natürlich um ihren eigenen.
Bipolare Störung, das war in letzter Zeit zu einer Allerweltsdiagnose geworden. Während man früher annahm, die Krankheit setze nach Beginn der Pubertät ein (wie bei der Tochter dieser Frau), wurde heute die Diagnose schon bei dreijährigen Kindern gestellt. Zee wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, sie war zwiegespalten. Sie hatte den Witz dabei überhaupt nicht kapiert, bis Mattei sie darauf hinwies, die dachte, Zee hätte das mit Absicht gesagt. Nein, hatte Zee ihr erklärt. Sie meinte das wirklich ernst. Auf jeden Fall handelte es sich um eine Krankheit, die behandelt werden musste. Eine unbehandelte bipolare Störung führte selten zu etwas anderem als einer Katastrophe. Aber eine zu frühe medizinische Behandlung schien auch nicht richtig zu sein, denn davon profitierten nur Versicherungen und Pharmahersteller. Dafür war Zee nicht jahrelang ausgebildet worden.
Die weltberühmte Dr. Mattei hatte schon längst die eigentliche Führung der Panik-Gruppe Zee und den anderen Psychologen überlassen. Mattei selbst widmete sich mittlerweile ihrer neuesten Bestseller-Idee. In dem Buch wollte sie die Theorie entfalten, dass eine Tochter immer die unerfüllten Träume ihrer Mutter auslebt. Selbst wenn sie diese Träume gar nicht kennt, selbst wenn diese Träume nie geäußert wurden, kommt es mit alarmierender Regelmäßigkeit dazu, so Mattei. Die Idee war nicht neu. Aber Mattei stellte die Theorie auf, dass es umso wahrscheinlicher passierte, wenn diese Träume nie geäußert wurden, etwa im Sinne von: Wer die Vergangenheit nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.
Zee hatte sich oft Gedanken über die Frau mit den durchscheinenden Augen gemacht, die nach diesem Abend nur noch einmal in die Panik-Gruppe gekommen war. Sie dachte über ihre unerfüllten Träume nach, ob ausgesprochen oder unausgesprochen, und sie fragte sich, ob es etwas gab, das die Tochter für ihre Mutter ausgelebt hatte, als sie an der Route 95 stand und mit einem Fremden in Richtung Süden mitfuhr.
Zee war froh, dass die Frau die Gruppe verlassen hatte, bevor Mattei ihre neueste Theorie vorbrachte. Die Mutter machte sich schon genügend Vorwürfe wegen des Verschwindens ihrer Tochter. Jeden Tag fragte sie sich aufs Neue, ob sie den Lauf der Dinge hätte ändern können, wenn sie ihrer Tochter nur die eine unbestimmte Sache gegeben hätte, die sie ihr nicht zugestanden hatte – etwas Greifbares und vielleicht ganz Gewöhnliches, so etwas wie das rote Kleid bei Filene’s im Schaufenster. Oder die eine Woche im Pfadfinderinnenlager, um die ihre Tochter sie vor Jahren angebettelt hatte.
Niemand verstand besser als Zee, wie dieses »Wenn nur« funktionierte. Sie lebte es jeden Tag, auch wenn sie nicht nach dem unbestimmten Etwas suchen musste. Sie glaubte zu wissen, was ihre Mutter an dem Tag vor so vielen Jahren haben wollte und was ihr aus ihrer Depression hätte heraushelfen können. Es war ein Gedichtband von Yeats, den Finch Maureen zur Hochzeit geschenkt hatte und den ihre Mutter wie einen Schatz hütete. Zees »Wenn nur« hatte umgekehrt funktioniert: Wenn sie ihrer Mutter an dem Tag nur nicht das geholt hätte, was sie haben wollte, wenn sie ihre Mutter nur nicht allein gelassen hätte, dann hätte Zee sie vielleicht retten können.
1. TEIL
Mai 2008
Über die Navigation …
Unter Navigation versteht man die Bestimmung der jeweiligen Position des Schiffes und des Kurses, den es einschlagen muss, um den Zielhafen zu erreichen.
Nathaniel Bowditch: The American Practical Navigator
1
Lilly Braedon verspätete sich.
Mattei steckte den Kopf durch die Tür von Zees Zimmer. »Wahnsinn, ist das heiß draußen«, sagte sie. »Oh, du steckst aber eigentlich gerade in einer Sitzung, oder?«
»Ich sollte, normalerweise.« Zee sah auf die Uhr. Es war Viertel nach drei.
Mattei zog sich währenddessen um. Sie kickte die Laufschuhe weg und schlüpfte in ihre Kostümjacke. Jeden Nachmittag lief sie fünf Meilen am Charles River entlang, bei jedem Wetter. War sie überbucht, was
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