Die Wiedergeburt (German Edition)
bin.“
„Das bist du ganz und gar nicht, mein Junge“, seufzte Ojun. „Aus dir spricht der blanke Hass, und dein Herz giert nach Rache. Sei dir gewiss, jeder Mann würde so empfinden wie du, doch ist es wichtig, sich nicht vom Hass leiten zu lassen. Denn hat der Hass erst von dir B e sitz ergriffen, frisst er dich von innen heraus auf, bis alles Gute in dir verschwunden ist. Dann wirst du nur noch f ä hig sein, Hass zu empfinden, selbst gegenüber denen, die dir Gutes wollen oder dir nahe stehen. Und dann, Lark y en … erst dann wirst du ganz allein sein. Du musst en t scheiden, was für dich wichtig ist. Willst du in den We s ten reiten, um alles, was einst geschehen ist, hinter dir zu lassen, oder willst du den Stamm der Yesugei rächen? Wir beide kennen die Antwort auf diese Frage bereits.“
Larkyen konnte den Ruf nach Rache in seinem Herzen nicht verleugnen. Ja, er wollte Rache, und der Gedanke daran verdrängte mittlerweile selbst die Vorstellung, wie es wohl wäre, nach Westen, in seine Heimat Kentar an der Küste des Grauen Meeres zu reiten.
Er starrte schweigend in die Glut des Feuers. Der Wind blies durch sein langes Haar, und immer wieder musste er sich die Strähnen aus dem Gesicht streichen.
Nach langem Überlegen sprach er: „Als Kind der schwarzen Sonne ist es mein Wille, dass jeder meiner Wünsche in Erfüllung gehen möge.“
Nach diesen Worten stand er auf und wünschte dem Schamanen eine gute Nacht. Dann legte er sich in der Jurte zur Ruhe. Eingerollt in dicke Schafsfelle, verfiel er in einen tiefen, traumlosen Schlaf.
Am nächsten Tag verkündete Ojun, dass Sonne und Mond sich nun den Himmel teilen würden. Der Scham a ne schien jene Tag- und Nachtgleiche bereits herbeig e sehnt zu haben, auch wenn er zu Larkyen kein Wort d a von gesagt hatte. Mit ihm sprach Ojun ohnehin nur das nötigste.
Larkyen wusste nicht viel über das Leben eines Schamanen. Der Schamane der Yesugei war im Stamme s leben zwar allgegenwärtig gewesen, doch hatte er zu den meisten seiner Riten und Mysterien niemals Erklärungen a b gegeben. Umso mehr überraschte es Larkyen, als Ojun ihn sagte, er solle gegen Abend an einem Ritus teilne h men.
Larkyens Neugierde war groß, und je mehr die Sonne sich neigte, umso nervöser wurde er. Als ihre Strahlen nur noch fahl über die Bergspitzen strahlten, hatte sich Ojun in ein bräunliches, mit Adlerfedern verziertes Lederg e wand gehüllt. Er ging zum Feuer und winkte Larkyen zu sich heran.
„Heute Nacht rufen wir die Geister der Toten.“
„Der Toten?“ Argwohn beherrschte den Klang von Larkyens Stimme.
„Sei ohne Furcht, Larkyen“, sagte der Schamane. „Die Toten sind uns freundlich gesinnt. Es sind all jene, die du einst kanntest.“
Larkyen sah Ojun ungläubig an.
„Die Yesugei?“ fragte er.
„Ja“, sagte Ojun. „Die Yesugei, ebenso wie deine lei b lichen Eltern.“
Larkyen sah aufgeregt in die Flammen. So unglau b lich es auch schien, wagte er es doch wiederum nicht, die Worte des Schamanen in Frage zu stellen.
Ojun hob seine Arme gen Himmel und stimmte einen Gesang in einer für Larkyen unverständlichen Sprache an. Die Worte klangen altehrwürdig und bescherten La r kyen eine Gänsehaut. Der Schamane fuhr nun mit beiden Hä n den durch das Feuer, und die Flammen loderten grell auf und spien Rauch in die Luft. Ojuns Gesang wurde lauter. Er verfiel in einen rhythmischen Tanz, rotierte und wi r belte durch den Rauch. Larkyen traute seinen Augen nicht, als er plötzlich inmitten der Schwaden die Silho u etten von Gestalten erkannte. Sie schienen den Scham a nen zu umgarnen, tänzelten um ihn herum oder erhoben sich schwerelos in die Luft. Noch nie zuvor hatte Lark y en so etwas gesehen. Endlich begriff er, dass sich hier etwas abspielte, das nur ein Schamane erfassen konnte, dem als einzigem der Umgang mit Geistern gestattet war.
„Du bist nicht allein, Larkyen! Die Toten halten zu dir!“
Die Geister näherten sich nun auch Larkyen. Wi s pernde und zischende Stimmen drangen an sein Ohr, zu leise, um von ihm verstanden zu werden. Er versuchte die Geister als die zu erkennen, die sie einst gewesen waren, doch in ihrer Schemenhaftigkeit war nichts, das sie vo n einander unterschied.
Er spürte, wie sie seine Schultern, sein Gesicht und seine Haare berührten. Unruhig sah er sich um.
Dann verspürte er einen lang anhaltenden Kuss auf seinen Lippen.
„Kara“, flüsterte er.
Das Wispern wurde immer lauter, und plötzlich b e gann der
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