Die Wiederkehr des gefallenen Engels
Weitere Schauer jagten ihr bis in den Nacken hinauf. Sie spürte, wie er seine Hand unter ihr T-Shirt schob und federleicht über ihre Haut strich. Sie wollte ihn ebenfalls streicheln, aber es ging nicht, zu sehr genoss sie seine Berührungen.
Bens Atem wurde schwerer. »Ja«, raunte er.
Lara wich zurück. Sie löste sich aus seiner Umarmung, obwohl er sie festhalten wollte.
»Nein«, sagte sie.
Ben sah sie an. »Du willst es doch auch.«
»Ja, aber nicht so. Nicht auf die Schnelle und nicht mit meiner Oma im Haus.«
Sein Gesicht glühte vor Erregung. Kurz öffneten sich seine Lippen, als wollte er noch etwas sagen, aber dann erstarben die Worte unausgesprochen.
Lara nahm seine Hand in ihre. »Es tut mir leid, Ben.«
»Mir auch«, sagte er heiser.
»Ein anderes Mal wird es …«
»Sicher«, unterbrach er sie. »Ein anderes Mal.«
Seine Worte klangen bitter.
»Ich verspreche es dir.«
»Was versprichst du mir?« Seine Augen glühten. Lara spürte, wie Vorfreude durch seinen Körper jagte.
»Dass wir bald miteinander schlafen.«
»Wann?«, fragte er leise.
»Bald. Sehr bald«, antwortete Lara ebenso leise.
Damian stand in der Nähe von Laras Haus und blickte zu ihrem Fenster hinauf. Er wusste, dass der andere bei ihr war. Der Junge mit der merkwürdigen Ausstrahlung.
Ben.
Laras Exfreund.
Der Wind fuhr schneidend durch Damians Kleidung, aber er beachtete die frostige Umklammerung nicht, die an seiner äußeren Hülle zerrte. Er fühlte Schmerz.
Sehnsucht.
Aber da war auch noch ein anderes Gefühl in ihm. Heiß und zornig brannte es in seinem Inneren. Die Flamme der Eifersucht loderte auf, drohte, ihn zu verschlingen.
Was tun sie gerade?, fragte er sich. Berühren sie sich? Umarmen sie einander? Lieben sie sich?
Ein Schrei erklang in seiner Seele. Es war sein eigener Schmerz, der ihn stumm aufschreien ließ.
Ich sollte es sein, der da oben bei ihr ist. Sie halten, küssen und mit ihr verschmelzen. Aber Lara weiß nicht mehr, wer ich bin. Dass sie mich geliebt hat. Ich bin ein vollkommen Fremder für sie. Wenn ich mich ihr zu schnell nähere, wird sie mich zurückweisen und alles ist verloren. Aber uns bleibt keine Zeit. Ich muss meinen Schmerz vergessen, die Sehnsucht ihn mir ertränken. Ich habe eine Aufgabe. Ich muss Lara schützen, bis der 6666. Tag ihres Lebens gekommen ist, und ihr beistehen, wenn die Prophezeiung sich erfüllt. Es tut so weh.
Woher dieser Schmerz? Nie zuvor habe ich so gefühlt in der langen Zeit meiner Existenz. Aber es zerreißt mir das Herz.
Er verzog das Gesicht. Seine Lippen pressten sich fest aufeinander.
Welches Herz? Ich bin ein Engel, kein Mensch wie dieser Ben. Er kann mit ihr sein Leben teilen. Ich hingegen werde vergehen. Wie damals der Schmetterling an dem kleinen See in Berlin, der uns für einen Moment an seiner Schönheit teilhaben ließ. Auch ihm war es bestimmt zu sterben.
Damian blickte auf seine zuckenden Hände hinab. Die Finger verkrampften sich, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte. Heute war es besonders schlimm.
Er sah bittend zum wolkenverhangenen Himmel hinauf. Wie lange noch, Herr?
Niemand antwortete.
Schneeflocken fielen auf das in den Himmel gereckte Gesicht, legten sich wie ein sanfter Mantel darüber.
Damian schloss die Augen.
Sein Sommer war vorüber.
14.
Der Tag war fast vergangen, nur noch ein letzter Lichtstrahl fiel über die dunkle Silhouette der schneebedeckten Berge.
Der Schneefall hatte nachgelassen, aber noch immer tanzten weiche Flocken in der Luft, fielen sanft zu Boden, bedeckten Weiß mit neuem Weiß.
Die Stelle, an der sie sich versammelten, lag abgelegen außerhalb von Rottenbach auf einem kleinen Hügel nahe dem Waldrand. Bei dieser grimmigen Kälte und der hereinbrechenden Dunkelheit war kein Mensch unterwegs und so sah niemand das Erscheinen der sieben Engel.
Sie materialisierten nacheinander und ihre Körper verdrängten die Luft, ließen sie flirren, als würde Hitze aufsteigen. Der Schrei eines einsamen Vogels, weit entfernt, empfing Gabriel, als er die Lider aufschlug und aus himmelblauen Augen die Umgebung betrachtete. Hier in der Stille fühlte er Geborgenheit, anders als in der Stadt, aus der sie gekommen waren. Wenn man schwieg und lauschte, konnte man die Stimme der Natur hören, ihr gleichmäßiges Pulsieren spüren und den Duft des Lebens einatmen. Berlin war dagegen unruhig, wie ein Organismus, dessen Zellen sich aus menschlichem Fleisch und Beton zusammensetzten. In Berlin gab es
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