Die Wiederkehr des gefallenen Engels
»Das Kompliment kann ich nur zurückgeben, aber ehrlich gesagt, neben dir fühle ich mich wie ein hässliches Entlein.«
Jessi lachte auf. Sie trat einen Schritt hinter Lara und legte ihr einen Arm freundschaftlich um die Schulter. Mit der linken Hand strich sie über Laras Wange.
»Sieh, wie schön du bist«, sagte sie. »Du hast klassische Gesichtszüge, wundervolle Augen, die einen Mann verrückt machen können, und einen Mund, der zum Küssen einlädt.«
Lara wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie blickte in den Spiegel und versuchte zu entdecken, was Jessi in ihr sah.
Da sie ihrer Mutter ähnlich war, die allgemein als hübsch galt, konnte sie wohl kaum hässlich sein. Aber schön? War das nicht ein wenig hoch gegriffen?
Noch während sie ihr Spiegelbild betrachtete, wurde ihr schwindlig. Graue Wolken drängten sich in ihr Sichtfeld, ließen alles verschwimmen. Wie durch dichten Nebel hindurch sah sie ihr Gesicht, das sich abrupt verzerrte, als würde sie eine Grimasse ziehen. Wie geschmolzenes Wachs flossen ihre Züge auseinander und formten sich wieder neu. Und dann erschrak sie.
Aus dem Spiegel starrte sie eine Monstrosität an. Das Gesicht einer alten Frau voller tiefer Falten, mit Augen, in denen nur das Weiße zu sehen war, und einem zahnlosen Mund, über dem ein Loch klaffte anstatt einer Nase. Die Alte grinste sie an. Die spröden Lippen formten lautlos Wörter.
Lara keuchte. Neben ihr sagte Jessi etwas, aber sie verstand es nicht. Durch die Schleier hindurch fiel ihr Blick auf Jessis Spiegelbild. Die langen schwarzen Haare hatten grauen Büscheln Platz gemacht, die aus einem kahlen, vernarbten Schädel sprossen. Geschlitzte Pupillen fixierten sie. Eine gespaltene Zunge fuhr suchend aus dem Mund, zischelte und verschwand wieder. Lara versuchte, das Bild mit Jessi in Einklang zu bringen, aber es gelang ihr nicht. Jessi war verschwunden. Nur noch dieses Wesen stand neben ihr, beugte sich vor und leckte gierig über ihre Wange.
Ich fantasiere, dachte Lara. Irgendetwas geschieht mit mir, ich verstehe das nicht.
Sie sah erneut auf ihr Spiegelbild, kniff die Augen zusammen und zwang sich, den Blick nicht abzuwenden.
Endlich lösten sich die Schleier. Das Bild im Spiegel zerfloss, wurde wieder zum Abbild zweier junger Frauen, die in einem Waschraum standen und ihr Aussehen kontrollierten.
»Was ist mir dir?«, fragte Jessi. »Du wirkst so abwesend.«
Lara wandte sich ihr zu, sah in das freundlich lächelnde Gesicht. Sie schüttelte leicht den Kopf.
»Nichts, alles okay.«
Nichts war okay, aber es machte jetzt auch keinen Sinn, darüber nachzugrübeln. Sie hatte Halluzinationen. Bilder, die vor ihren Augen auftauchten und wieder verschwanden. Vielleicht hing das alles, genau wie ihre Albträume, noch mit der Ohnmacht zusammen, die in der Schule über sie gekommen war. Möglicherweise hatte sie doch eine Gehirnerschütterung erlitten und ihr Unterbewusstsein war durcheinandergeraten. Wer konnte das schon wissen?
Wichtig war einfach, wie sie damit umging. Sie konnte sich ängstigen und sich die schlimmsten Dinge ausmalen oder die Sache einfach akzeptieren, wie sie war. Sie litt keine Schmerzen. Es waren nur Bilder. Grässliche Bilder zugegeben, aber eben nur Bilder. Nein, davon würde sie sich nicht beeindrucken lassen und schon gar nicht würde sie erneut ins Krankenhaus gehen, um sich weiter untersuchen zu lassen. Sie war jung, gesund, wie ihr die Ärzte bescheinigt hatten, und das Leben fand hier und heute statt.
Sie wandte sich an Jessi. »Ich bin fertig. Und du?«
»Alles klar.«
»Dann lass uns zu den anderen gehen.« Lara hakte sich bei Jessi unter und gemeinsam, wie alte Freundinnen, gingen sie zurück ins Billardcafé.
Keine von beiden bemerkte Monas hasserfüllten Blick, als sie lachend an der Theke zwei Colas bestellten.
23.
Damian hatte sich zurückgezogen. Er lag auf der Rückbank eines alten VW Passats, der schon bessere Tage erlebt hatte. Ein Kissen unter den Kopf geschoben und in zwei dicken Decken eingewickelt, erwartete er die Nacht. Eine Nacht, die bitterkalt werden würde. Auch daran hatte er sich erst gewöhnen müssen. Schmerz und Kälte. Einen menschlichen Körper zu besitzen, war eine einzigartige Erfahrung. Intensiv wie nie zuvor spürte er jede Faser dieser materiellen Hülle. Fühlte das Blut durch seine Adern rauschen, wie Nerven reagierten und Muskeln sich bewegten.
Es war so … anders, als ein Engel zu sein.
Unvergleichlich, war das Wort, das ihm dazu
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