Die Wiederkehr des gefallenen Engels
an.
»Du hast auf mich gewartet«, sagte sie ruhig. Es lag kein Ärger in ihrer Stimme, es war vielmehr Neugierde. »Warum?«
»Ich wollte dich fragen, ob wir nach dem Unterricht etwas gemeinsam unternehmen können.«
»Was würdest du gern tun?«
Er zuckte mit den Schultern. »Spazieren gehen?«
Sie lächelte. »Bei diesem Wetter? Aber okay. Wo gehen wir hin?«
»In den Stadtpark?«
»Nein, lass uns zum See hinuntergehen.«
Er musste sich beherrschen, sich nicht anmerken lassen, wie sehr ihn dieser Vorschlag berührte. Sie waren schon einmal an einem See spazieren gegangen. Damals in Berlin. Dort hatte alles begonnen.
»Gerne.«
Lara wollte noch etwas sagen, aber der Schulgong rief zum Unterricht. Nebeneinander gingen sie die Stufen hoch. Keiner von beiden sah Ben, der unten in der Halle stand und zu ihnen hinaufstarrte.
Sie gingen nebeneinander, ohne zu reden, und genossen die Ruhe der Natur. Vor dem Hintergrund des nahen Waldes schimmerte der zugefrorene See im Schnee. Büsche, Schilf und Bäume säumten das Ufer. Die Sonne war hinter den Wolken hervorgekommen und ließ die Eiskristalle an den Zweigen glitzern.
Es war so ruhig hier. Stille umgab sie. Man konnte Kraft schöpfen aus dieser Stille, man konnte sich ihr hingeben und träumen, aber man konnte in ihr auch die Nähe eines anderen Menschen genießen.
Lara fand es angenehm, mit Damian um den See zu spazieren. Er störte die Ruhe nicht mit aufgeregtem Geplapper, sondern konnte schweigen. Sie betrachtete ihn aus dem Augenwinkel. Wie stets trug er seinen schwarzen Ledermantel, aber diesmal dazu kein Hemd, sondern einen schwarzen Rollkragenpullover. Jeans und Stiefel, eine Wollmütze, unter der seine schwarzen Haare hervorlugten. Sein Gesicht war bleich, aber hatte nicht diese krankhafte Blässe von Menschen, die zu wenig an die Sonne gingen. Er schien schlicht ein hellhäutiger Typ zu sein. Sein Gesicht hatte edle Züge, etwas Offenes lag darin, aber auch etwas Geheimnisvolles.
Es ist nicht schwer, sich in dich zu verlieben, dachte Lara. Irgendwann kommt ein Mädchen und erkennt, dass du ein besonderer Mensch bist.
Lara schob mit dem Stiefel einen kleinen Ast zur Seite, der auf ihrem Weg lag.
Warum denke ich so etwas? Warum tut mir der Gedanke weh, er könne eine andere finden? Ben … Nein, ich werde jetzt nicht an Ben denken. Ich will Damian kennenlernen. Er könnte ein guter Freund werden …
Plötzlich sah sie, wie er seine Hand nach ihr ausstreckte. Es war eine so vertraute Geste, dass Lara gar nicht anders konnte, als den Handschuh abzustreifen und seine Hand zu fassen. Seine Berührung war fest, aber nicht zu fest. Ein Gefühl von Wärme durchströmte Lara, aber es war seltsamerweise nicht Verlegenheit, sondern ein Gefühl von Geborgenheit.
So als kehre man heim.
Obwohl die Berührung sie verwirrte, zog sie ihre Hand nicht zurück. Damian sagte noch immer kein Wort. Er sah sie nicht an, sondern setzte seinen Weg mit ruhigen Schritten fort.
Lara blickte nicht auf ihre Hände, aber das Gefühl war so überwältigend, so schön, dass sie nicht anders konnte als lächeln.
Damian begann, eine leise Melodie zu summen. Eine Weise, die sie nie zuvor gehört hatte. Es klang verzaubernd, wie ein altes Kinderlied.
»Was summst du da?«, fragte sie.
»Oh.« Er sah sie überrascht an. »Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich das tue.«
»Wie heißt das Lied?«
Er blieb stehen, sah sie ruhig an, dann zog ein Lächeln über sein Gesicht und die schweigsame Ernsthaftigkeit verschwand, wie Nebel im Sonnenlicht, und wich einer angenehmen Vertraulichkeit.
»Man nennt es ›Ruf der Engel‹«, erklärte er ruhig.
»Echt? Habe ich noch nie zuvor gehört.« Sie wiederholte leise den Namen. »Und wenn man das Lied singt, kommen dann die Engel?« Sie lachte.
»Nein«, sagte Damian. »Es ist der Ruf der Engel zum Gebet, zur Gemeinschaft, zur Andacht. Ein jeder Engel, der es hört, weiß, dass Brüder in der Nähe sind.«
»Dann müssen sie ganz schön laut singen.«
»Eigentlich wird es stumm gesungen, denn Engel hören dieses Lied in ihrem Geist.«
»Ein schöner Gedanke. Woher hast du so etwas?«
Sein Mundwinkel zuckte. »Habe ich irgendwo aufgeschnappt. Ist nicht so wichtig.«
»Das Lied gefällt mir. Singst du es noch einmal für mich?«
»Das willst du nicht wirklich. Ich bin kein guter Sänger.«
Lara zog einen Kinderschmollmund. »Für mich, bitte.«
Er grinste verlegen.
Dann sang er.
Wunderschöne Worte aus einer anderen
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