Die Wiederkehr von Sherlock Holmes, Bd. 3
er fiel in seinen Sessel zurück. Im selben Moment öffnete sich der Bücherschrank, auf den Holmes gedeutet hatte, und eine Frau stürzte ins Zimmer.
»Sie haben recht«, rief sie mit seltsam fremdländischer Stimme, »Sie haben recht! Ich bin hier.«
Sie war grau von Staub und mit den Spinnweben von den Wänden ihres Verstecks behangen. Auch ihr Gesicht war schmutzig, aber selbst unter besten Voraussetzungen hätte sie nicht für ansehnlich gelten können, weil sie genau die körperlichen Eigenschaften aufwies, die Holmes vorausgesagt hatte; dazu kam noch ein langes, eigenwilliges Kinn. Wegen ihrer Sehschwäche und dem Wechsel vom Dunklen ins Helle stand sie wie betäubt, blinzelte nach allen Seiten, um auszumachen, wo wir uns befanden. Und trotz all dieser Nachteile lag eine gewisse Vornehmheit in der Haltung der Frau, eine Unerschrockenheit in ihrem herausfordernden Kinn und dem hocherhobenen Kopf, die einem Respekt und Bewunderung abnötigten. Stanley Hopkins legte die Hand auf ihren Arm und erklärte sie für verhaftet, aber sie schob ihn sanft beiseite, mit einer überwältigenden Würde, die Gehorsam heischte. Der alte Mann hing mit zuckendem Gesicht in seinem Sessel und starrte sie mit brütendem Blick an.
»Ja, Sir, ich bin Ihre Gefangene«, sagte sie. »Ich konnte in meinem Versteck alles verstehen und weiß, daß Sie die Wahrheit kennen. Ich gebe alles zu. Ich war es, die den jungen Mann getötet hat. Aber Sie haben recht, wenn Sie sagen, daß es ein Unfall war. Ich wußte nicht einmal, daß es ein Messer war, was meine Hand hielt, denn in der Verzweiflung nahm ich den erstbesten Gegenstand vom Tisch und stieß damit nach ihm, um ihn zu zwingen, mich loszulassen.«
»Madame«, sagte Holmes, »ich bin sicher, daß Sie die Wahrheit sprechen. Ich fürchte, Sie fühlen sich nicht wohl.«
Ihr Gesicht hatte eine schreckliche Farbe angenommen, die durch die dunklen Schmutzstriemen noch gespenstischer wirkte. Sie setzte sich auf das Bett. Dann begann sie wieder zu reden.
»Mir bleibt hier nur noch wenig Zeit«, sagte sie, »aber ich möchte, daß Sie die ganze Wahrheit wissen. Ich bin die Frau dieses Mannes. Er ist kein Engländer, er ist Russe. Seinen Namen werde ich Ihnen nicht verraten.«
Zum erstenmal bewegte sich der alte Mann. »Gott segne dich dafür, Anna!« rief er, »Gott segne dich!«
Sie warf einen Blick voll der tiefsten Verachtung in seine Richtung. »Warum klammerst du dich so sehr an dein nichtswürdiges Leben, Sergio?« sagte sie. »Es hat vielen Leid und niemandem Gutes bereitet – nicht einmal dir. Aber es steht mir nicht an, dazu beizutragen, daß der brüchige Faden vor der Zeit durchschnitten wird, die Gott gesetzt hat. Ich habe schon genug auf meine Seele geladen, seit ich die Schwelle dieses verfluchten Hauses überschritten habe. Aber ich muß reden, es könnte sonst zu spät sein.
Ich habe Ihnen gesagt, meine Herren, daß ich die Frau dieses Mannes bin. Er war fünfzig und ich ein dummes Mädchen von zwanzig, als wir heirateten. Das war in einer russischen Stadt, an einer Universität – ich nenne den Ort nicht.«
»Gott segne dich, Anna!« murmelte der alte Mann wieder.
»Wir waren Reformer – Revolutionäre – Nihilisten, verstehen Sie? Er und ich und viele andere. Eine unruhige Zeit brach an, ein Polizeioffizier wurde getötet, viele sperrte man ein, und man suchte Zeugen; um sein eigenes Leben zu retten und eine große Belohnung zu erhalten, verriet mein Mann die eigene Frau und seine Gefährten. Ja, wir wurden alle auf Grund seines Geständnisses verhaftet. Einige von uns kamen an den Galgen, die anderen nach Sibirien. Ich befand mich unter letzteren, aber ich war nicht zu lebenslänglicher Verbannung verurteilt. Mein Mann verschwand mit seinem unehrlich erworbenen Gewinn nach England, und hier hat er seither unauffällig gelebt, wohl wissend, daß er nicht eine Woche länger am Leben bleiben würde, wenn die Bruderschaft erfuhr, wo er sich aufhielt.«
Der alte Mann nahm zitternd eine Zigarette. »Ich bin in deiner Hand, Anna«, sagte er. »Du bist immer gut zu mir gewesen.«
»Ich habe Ihnen noch nicht vom Gipfel seiner Schurkerei erzählt«, sagte sie. »Unter unseren Gefährten gab es einen, dem ich von Herzen zugetan war. Er war edel, selbstlos, liebevoll – alles, was mein Mann nicht war. Er verabscheute Gewaltanwendung. Wir alle hatten uns schuldig gemacht – wenn man es Schuld nennen kann –, aber er
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