Die Wiederkehr von Sherlock Holmes, Bd. 3
anderen Pflichten vergessen. Sollte es im Lauf des Tages neue Entwicklungen geben, werden wir uns mit Ihnen in Verbindung setzen, und Sie werden uns sicherlich wissen lassen, was Ihre Nachforschungen ergeben.«
Die beiden Staatsmänner verbeugten sich und verließen würdevoll das Zimmer.
Nachdem unsere erlauchten Besucher sich verabschiedet hatten, schwieg Holmes, zündete seine Pfeife an und saß einige Zeit in tiefe Gedanken versunken da. Ich hatte die Morgenzeitung aufgeschlagen und mich in ein sensationelles Verbrechen vertieft, das am vorangegangenen Abend in London begangen worden war, als mein Freund einen Ausruf tat, hochsprang und die Pfeife auf dem Kaminsims ablegte.
»Ja«, sagte er, »das ist der beste Weg, sich in die Sache zu machen. Die Situation ist verzweifelt, aber nicht hoffnungslos; wenn wir nur sicher wüßten, wer von den dreien den Brief an sich gebracht hat. Es ist durchaus möglich, daß er ihn noch nicht aus den Händen gelassen hat. Schließlich dreht sich bei diesen Burschen alles ums Geld, und ich habe die Britische Schatzkanzlei hinter mir. Wenn er sich auf dem Markt befindet, werde ich ihn kaufen – selbst wenn das die Erhöhung der Einkommenssteuer um einen Penny bedeutete. Es ist denkbar, daß der Kerl ihn zurückhält, um abzuwarten, welche Angebote von dieser Seite kommen, ehe er sein Glück bei der anderen Seite versucht. Nur diese drei sind fähig, ein so kühnes Spiel zu spielen. Also: Oberstein, La Rothiére und Eduarde Lucas. Ich werde jeden aufsuchen.«
Ich blickte in die Morgenzeitung.
»Meinen Sie Eduardo Lucas aus der Godolphin Street?«
»Ja.«
»Den werden Sie nicht antreffen.«
»Warum nicht?«
»Er ist gestern abend in seinem Haus ermordet worden.«
Mein Freund hatte mich im Lauf unserer Abenteuer so oft in Erstaunen versetzt, daß ich jetzt triumphierend wahrnehmen konnte, wie tief das Staunen war, in das ich ihn gestürzt hatte. Verwirrt starrte er mich an und riß mir dann die Zeitung aus der Hand. Das war der Artikel, in den ich vertieft gewesen war, als er aus seinem Sessel aufsprang:
›Mord in Westminster
Gestern abend ereignete sich ein geheimnisvolles Verbrechen in der Godolphin Street 16, einer der altertümlichen, abgelegenen Straßen mit Häusern aus dem 18. Jahrhundert, die zwischen dem Fluß und der Abbey liegt, sozusagen im Schatten vom großen Turm des Parlaments. Bewohner des kleinen, aber erlesenen Gebäudes war seit einigen Jahren Mr. Eduardo Lucas, der in der Gesellschaft wegen seiner bezaubernden Persönlichkeit, doch auch wegen seines wohlverdienten Rufs als einer der besten Amateurtenöre des Landes bekannt war. Mr. Lucas war unverheiratet, vierunddreißig Jahre alt; zu seinem Haushalt gehören Mrs. Pringle, eine ältere Haushälterin, und Mitton, sein Kammerdiener. Erstere zieht sich abends früh zurück und schläft im Dachgeschoß. Der Kammerdiener hatte einen freien Abend und war zu Besuch bei einem Freund in Hammersmith. Von zehn Uhr an hatte Mr. Lucas das Haus zu seiner alleinigen Verfügung. Was zu Anfang dieser Zeit geschah, ist noch nicht geklärt; aber Viertel vor zwölf fand der in der Godolphin Street patrouillierende Konstabler Barrett die Tür zum Haus Nr. 16 offenstehen. Er klopfte, erhielt aber keine Antwort. Da er ein Licht im Vorderzimmer bemerkte, trat er in den Flur und klopfte wieder, erhielt aber wiederum keine Antwort. Dann öffnete er die Tür und trat ins Zimmer. Der Raum befand sich im Zustand wildester Unordnung, alle Möbel waren in eine Ecke geschoben, und in der Mitte lag ein umgestürzter Stuhl. Neben dem Stuhl, eine Hand um eines seiner Beine gekrampft, lag der unglückliche Hausherr. Ein Stich ins Herz muß seinem Leben auf der Stelle ein Ende gesetzt haben. Das Messer, mit dem das Verbrechen begangen worden war, ist ein gekrümmter indischer Dolch, der von einer Sammlung orientalischer Trophäen herabgerissen wurde, die eine der Wände schmückt. Raub scheint nicht das Motiv des Verbrechens zu sein, denn es wurde nicht versucht, Wertgegenstände aus dem Zimmer zu entfernen. Mr. Eduardo Lucas war eine so bekannte und beliebte Persönlichkeit, daß sein gewaltsames und rätselhaftes Ende in seinem großen Freundeskreis schmerzliche Anteilnahme und starkes Mitgefühl hervorrufen wird.‹
»Nun, Watson, was halten Sie davon?« fragte Holmes nach einer langen Pause.
»Ein erstaunlicher Zufall.«
»Ein Zufall! Hier ist einer der drei Männer,
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