Die Wiederkehr von Sherlock Holmes, Bd. 3
erfuhr erst aus den Zeitungen Näheres über die Voruntersuchung und über die Verhaftung und baldige Entlassung von John Mitton, dem Kammerdiener des Ermordeten. Die Jury hatte auf vorsätzlichen Mord erkannt, aber die Sache blieb im Dunkeln wie zuvor. Es wurde kein Motiv entdeckt. Das Zimmer war voll gewesen mit wertvollen Gegenständen, aber nichts war entwendet worden, auch die Papiere des Toten hatte man nicht angerührt. Sie wurden gründlich untersucht, und es stellte sich heraus, daß der Ermordete äußerst interessiert war an internationaler Politik, daß er ein bemerkenswerter Sprachwissenschaftler, ein unverdrossener Verbreiter von Klatsch und unermüdlicher Briefschreiber gewesen war. Er hatte mit führenden Politikern verschiedener Länder auf vertrautem Fuß gestanden. Aber unter den Dokumenten, die seine Schubladen füllten, fand sich nichts Sensationelles. Was seine Beziehungen zu Frauen anging, so waren sie häufig wechselnd, aber oberflächlich. Er hatte viele weibliche Bekannte, aber wenige Freundinnen und niemanden, den er liebte. In den Gewohnheiten war er stetig, sein Benehmen gutartig. Sein Tod blieb ein absolutes Rätsel und schien es auch bleiben zu sollen.
Die Verhaftung von John Mitton, dem Kammerdiener, erwies sich als ein verzweifelter Entschluß, völligem Nichtstun zu entgehen. Gegen ihn ließ sich keine Anklage erheben. Am fraglichen Abend hatte er Freunde in Hammersmith besucht. Das Alibi war perfekt. Zwar stimmte es, daß er sich zeitig auf den Heimweg gemacht hatte und noch vor der Zeit, da das Verbrechen begangen wurde, wieder in Westminster hätte sein können; aber seine Erklärung, er sei einen Teil des Weges zu Fuß gegangen, wirkte in Anbetracht der schönen Nacht durchaus plausibel. So war er um zwölf Uhr wieder zu Hause und die unerwartete Tragödie hatte ihn anscheinend sehr entsetzt. Er hatte sich mit seinem Herrn immer gut verstanden. Einiges aus dem Besitz des Toten – namentlich ein kleiner Kasten mit Rasiermessern – wurde in den Schränken des Kammerdieners gefunden; aber er erklärte, es handele sich um Geschenke des Dahingegangenen, und die Haushälterin konnte die Geschichte bestätigen. Mitton hatte drei Jahre in Lucas’ Diensten gestanden. Bemerkenswert war, daß Lucas Mitton nie mitgenommen hatte, wenn er den Kontinent besuchte. Manchmal hatte er sich drei Monate ununterbrochen in Paris aufgehalten, Mitton aber damit betraut, auf das Haus in der Godolphin Street zu achten. Was die Haushälterin anging, so hatte sie in der Verbrechensnacht nichts gehört. Wenn ihr Herr einen Besucher empfing, hatte sie ihn stets eingelassen.
So blieb drei Morgen lang das Rätsel ungelöst, jedenfalls den Zeitungen nach zu schließen. Wenn Holmes mehr wußte, dann behielt er es für sich; aber als er mir dann berichtete, Inspektor Lestrade habe ihn ins Vertrauen gezogen, wußte ich, daß er in enger Berührung mit allen Entwicklungen stand.
Am vierten Tag kam eine ausführliche Meldung aus Paris, die die ganze Frage zu lösen schien.
›Die Pariser Polizei (so hieß es im ‚Daily Telegraph’), hat jetzt eine Entdeckung gemacht, die den Schleier vom tragischen Schicksal des Mr. Eduardo Lucas reißt, der letzten Montag ein gewaltsames Ende in seiner Wohnung in der Godolphin Street, Westminster, fand. Unsere Leser werden sich erinnern, daß der Tote erstochen in seinem Zimmer aufgefunden wurde und daß sich der Verdacht zunächst gegen seinen Kammerdiener richtete, der aber bald wieder, auf Grund seines Alibis, entlassen werden mußte. Gestern nun wurde eine Dame, die unter dem Namen Mme. Henri Fournaye eine kleine Villa in der Rue d’Austerlitz bewohnt, von ihrer Dienerschaft bei den Behörden als krank gemeldet. Eine Untersuchung ergab, daß sie an fortgeschrittenem Wahnsinn von besonders gefährlicher, unheilbarer Art litt. Von der Polizei unternommene Nachforschungen brachten heraus, daß Mme. Henri Fournaye erst letzten Dienstag von einer Reise nach London zurückgekehrt ist, und man fand Beweise, daß sie mit dem Verbrechen von Westminster in Zusammenhang steht. Ein Vergleich von Photographien hat gezeigt: Monsieur Henri Fournaye und Eduardo Lucas sind ein und dieselbe Person; der Verstorbene hatte aus irgendwelchen Gründen in London und Paris ein Doppelleben geführt. Mme. Fournaye ist kreolischer Abstammung und besitzt ein äußerst erregbares Naturell, und sie hat seit Jahren schon unter Anfällen von Eifersucht gelitten, die sie an den Rand der
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