Die Wiederkehr von Sherlock Holmes, Bd. 3
gewissen Grenzen, private Rache rechtfertigen. Nein, es hat keinen Zweck, mit mir darüber zu streiten. Meine Meinung steht fest: Meine Sympathien liegen eher auf Seiten der Verbrecher als beim Opfer, und ich werde diesen Fall nicht übernehmen.«
Holmes hatte mir gegenüber kein Wort zu der Tragödie gesagt, deren Zeugen wir geworden waren, aber ich beobachtete den ganzen Morgen, daß er sehr nachdenklicher Stimmung war, und durch seinen leeren Blick und seine Zerstreutheit machte er auf mich den Eindruck, als suchte er sich an etwas zu erinnern. Plötzlich, beim Lunch, sprang er auf. »Beim Himmel, Watson! Ich hab’s!« rief er. »Nehmen Sie Ihren Hut! Folgen Sie mir!«
Er lief so schnell er konnte die Baker Street hinunter und durch die Oxford Street bis kurz vor Regent Circus. Hier, linker Hand, war ein Schaufenster, dekoriert mit den Photographien der Zelebritäten und Schönen des Tages. Holmes’ Blicke hefteten sich auf eine Photographie; ich folgte seinem Blick und sah das Bild einer stolzen, königlichen Dame in Hofkleid und mit einer hohen diamantenbesetzten Tiara auf dem edlen Haupt. Ich betrachtete ihre feingeschwungene Nase, ihre kräftigen Augenbrauen, ihren geraden Mund und ihr festes kleines Kinn.
Dann, als ich den altehrwürdigen Titel des hervorragenden Adligen und Staatsmannes las, dessen Frau sie gewesen war, verschlug es mir den Atem. Unsere Blicke trafen sich, und Holmes legte den Finger auf die Lippen. Wir wandten uns von dem Fenster ab.
Sechsmal Napoleon
Es war nichts Ungewohntes für Mr. Lestrade von Scotland Yard, hin und wieder einen Abend bei uns hereinzuschauen, und Sherlock Holmes waren seine Besuche willkommen, da sie ihm den Kontakt mit alldem ermöglichten, was sich im Hauptquartier der Polizei tat. Zum Dank für die Neuigkeiten, die Lestrade brachte, war Holmes immer bereit, sich die Einzelheiten eines jeden Falles, der den Detektiv beschäftigte, aufmerksam anzuhören, und gelegentlich war er, ohne sich direkt einzumischen, in der Lage, einen Wink oder einen Rat zu geben, allein aus seiner umfassenden Kenntnis und Erfahrung.
An dem Abend, von dem ich spreche, hatte Lestrade über das Wetter und über die Zeitungen geplaudert. Dann war er in Schweigen verfallen, gedankenverloren paffte er an seiner Zigarre. Holmes fixierte ihn.
»Etwas Bemerkenswertes in Arbeit?« fragte er.
»Ach nein, Mr. Holmes, nichts Besonderes.«
»Dann erzählen Sie mal alles.«
Lestrade lachte.
»Gut, Mr. Holmes, es hat keinen Zweck, zu leugnen, daß mir wirklich etwas im Kopf herumgeht. Es ist ein so absurder Fall, daß ich gezögert habe, Sie mit ihm zu belästigen. Andererseits ist an ihm zweifellos etwas schief, wenn er auch tri vial scheint, und ich weiß, Sie haben ein Gespür für alles, was außerhalb der Norm liegt. Aber meiner Ansicht nach schlägt die Angelegenheit eher in Dr. Watsons Fach als in Ihres.«
»Krankheit?« fragte ich.
»Jedenfalls Verrücktheit. Und eine wunderliche Verrücktheit dazu. Man sollte nicht glauben, daß es irgend jemanden gibt, der heute lebt, der einen solchen Haß auf Napoleon hat, daß er jedes Abbild von ihm, das er zu Gesicht bekommt, zerstört.«
Holmes ließ sich in den Sessel zurückfallen.
»Das ist nicht mein Geschäft«, sagte er.
»Eben, das habe ich doch gesagt. Aber wenn der Mann Einbrüche begeht, um Plastiken zu zerschlagen, die ihm nicht gehören, nimmt das den Fall aus der Kompetenz des Doktors und bringt ihn in die der Polizei.«
Holmes richtete sich wieder auf.
»Einbruch! Das ist interessanter. Lassen Sie mich die Einzelheiten hören.«
Lestrade zog sein Dienstbuch heraus und frischte sein Gedächtnis auf.
»Der erste Fall, der gemeldet wurde, liegt zwei Tage zurück«, sagte er. »Er geschah im Laden von Morse Hudson, der in der Kennington Road mit Bildern und Statuen handelt. Der Gehilfe hatte für einen Augenblick den Laden verlassen, da hörte er es krachen, und als er zurückeilte, fand er eine Gipsbüste von Napoleon, die mit anderen Kunstwerken auf dem Ladentisch gestanden hatte, in Scherben. Er stürzte auf die Straße, aber obgleich Passanten erklärten, sie hätten einen Mann bemerkt, der aus dem Laden rannte, konnte er ihn nicht mehr sehen; es gelang ihm auch nicht, irgend etwas herauszufinden, das den Halunken identifizieren könnte. Man hielt es für einen der sinnlosen Akte von Zerstörungswut, die sich von Zeit zu Zeit ereignen, und als solcher
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