Die Wiederkehrer
Blick in die Menge. Irgendwie erinnerte er Niko an den jungen Daniel Day Lewis. Er hatte schwarze Locken, eine hohe, gerade Stirn, dichte Augenbrauen und ein sanftes Lächeln auf den schmalen Lippen. Die blauen Augen funkelten lebhaft und hatten dabei einen traurigen Glanz, der von einer weniger rosigen Vergangenheit zeugte. Schon beim geringsten Lächeln bildeten sich sympathische Falten an den Wangen.
„Was gibt’s?“, fragte Niko und registrierte einen würzig scharfen, ekelerregenden Geruch, der von diesem Mann ausging.
„Bist du derjenige, der hier wohnt?“, fragte der Mann und musterte Niko skeptisch. Er wirkte zugleich lässig und angespannt – falls das überhaupt ging. „Ich bin der Nachbar unter dir und …“
„Oh, es ist wegen des Lärms. Sorry, ich mach gleich leiser“, beeilte sich Niko zu versprechen.
„Nein, nein“, rief der Nachbar und schüttelte lachend den Kopf. „Der Lärm ist mir egal, ich hab Kopfhörer.“ Unter den verschränkten Armen holte er ein Stoffknäuel hervor und drückte es Niko in die Hand. Herrgott!
Davon
ging dieser beißende Gestank aus. Es war obendrein feucht. War das …
Urin?
„Wie es scheint, hast du zu wenig Klos für so eine Veranstaltung hier“, meinte der Nachbar und nickte mit dem Kopf zur den betrunken herumtorkelnden Gästen. Niko hielt das kontaminierte Kleidungsstück – es war ein weißes T-Shirt – mit spitzen Fingern von sich weg.
„Ich biete euch an, dass ihr zu mir runter aufs Klo kommt, wenn es so dringend ist, aber bitte – pinkelt nicht auf meinen Balkon. Ich hab …
hatte
… da meine frische Wäsche zum Trocknen hängen.“
„Uuups!“, machte Niko bestürzt. An diesen Nachbar konnte er sich gar nicht mehr erinnern. Andererseits – er hatte ja nur sehr kurze Zeit hier gewohnt und war dem Großteil der Nachbarschaft nie begegnet. „Das ist mir jetzt peinlich“, gestand Niko beschämt. „Ich … ähm … sag den Jungs gleich Bescheid, dass sie das bleiben lassen sollen. Kann ich das irgendwie gutmachen? Willst du auf ein Bier hereinkommen?“ Niko hielt dem Nachbar seine Flasche hin und zog sie schnell wieder zurück. „Ein frisches, natürlich!“
„Nein, ich arbeite. Da brauche ich einen klaren Kopf“, lehnte dieser freundlich ab.
„Arbeiten? Um
diese
Zeit?“ Niko war verblüfft. Es musste schon ein oder zwei Uhr sein.
„Die Nacht ist
meine
Zeit“, erklärte der Nachbar schmunzelnd, warf wieder einen Blick auf die fröhliche Partygesellschaft und meinte dann: „Okay,
ein
Bier!“
„Prima!“, freute sich Niko und machte dem Nachbar Platz, damit er eintreten konnte. Dieser sah sich um und warf einen väterlich-sanften Blick auf Nikos Gäste. Okay, er war der mit Abstand älteste hier – aber doch auch nur um rund zehn Jahre. Er wirkte ein bisschen seltsam, aber dabei sehr sympathisch.
„Übrigens, ich bin Bernd“, stellte sich der Nachbar vor und streckte Niko die Hand entgegen. Dieser packte das stinkende Shirt in die linke Hand, wischte sich die rechte an der Jeans ab und erwiderte Bernds ruhigen, sicheren Händedruck.
„Niko“, murmelte er und konnte nicht umhin, eine leise Enttäuschung zu spüren. Für einen Moment hatte er tatsächlich gehofft,
das
wäre dieser Raffael Hagen, den er kennenlernen sollte. „Tu mir leid wegen der Wäsche – wenn du willst, kannst du sie mir vorbeibringen, damit ich sie nochmal waschen kann.“
„Ich nehm dich beim Wort“, meinte Bernd sofort. „Morgen früh bring ich dir den ganzen Korb.“ Niko öffnete das Bad und warf das verseuchte Shirt seines Nachbarn hinein.
„Mach das. Ich hab's ernst gemeint.“
„Ich auch“, gab Bernd vergnügt von sich, folgte Niko in die Küche und schaute sich interessiert um, als betrachte er das Interieur in einem Möbelhaus. Niko grapschte ein Bier aus dem Kühlschrank, öffnete es mit den Zähnen – wobei Bernd das Gesicht zu einer schmerzhaften Fratze verzog – und reichte es ihm.
„Das solltest du nicht …“
„Ich weiß …“, winkte Niko ab. „Schlecht für die Zähne.“
Einen Moment lang sahen sie sich schweigend an.
„Was arbeitest du, wenn ich fragen darf?“, durchbrach Niko den peinlichen Augenblick und setzte sich auf den Küchentisch. Bernd lehnte sich ihm gegenüber gegen die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme.
„Ja, darfst du. Ich schreibe“, erklärte er und ließ den Blick wieder über die alten Küchenschränke schweifen „Ist das die Wohnung deiner Oma?“
„Nein.“ Niko
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