Die Wiege des Windes
pelzige Robben in einem kleinen Abschnitt niedergelassen hatten und plötzlich ein Schutzgebiet der Zone vier zu einem der Zone eins wurde. Esser höchstpersönlich hat den Antrag damals abschlägig entschieden.«
Trevisan ließ sich auf den Stuhl fallen. »Das heißt, wenn die Bezirksregierung beziehungsweise die Nationalparkverwaltung damals zugestimmt hätte, wäre die Trasse bereits gebaut?«
Kirner grinste. »So ist es. Die Robben haben einen Millionendeal der Peko Consulting zunichte gemacht. Komischerweise nahm dann plötzlich die Population der bedrohten Tiere aus heiterem Himmel wieder ab. Sie sind einfach verschwunden.«
Trevisan fuhr sich über die Stirn. »Klar, sie mögen nämlich keine hochfrequente Töne.«
Kirner nickte. »Schon gar nicht, wenn die ihre Gehörgänge belasten, als würde unsereins direkt neben einem lärmenden Kompressor stehen.«
»Und jetzt, wo die Robben weg sind und Liebler an Essers Stelle getreten ist, steht dem Bau nichts mehr im Wege.«
»Deshalb war Lieblers erste Amtshandlung auch die Rückführung der mittlerweile entvölkerten Sandbänke in ein Schutzgebiet der Zone vier«, bestätigte Kirner. »Die Genehmigung des neuen Antrages wäre jetzt nur noch reine Formsache.«
»Und ausgerechnet Friederike van Deeren diagnostiziert in ihrem Bericht den Umstand eines geheimnisvollen Robbenschwundes, ohne wirklich Bescheid zu wissen …«
»… und ihr Freund ist es, der das Rätsel zu entschlüsseln sucht.«
Trevisan klopfte sich auf die Schenkel. »Die Forschungsarbeit im Wattenmeer hatte nur den Sinn, unbehelligt dem Robbenschwund Vorschub zu leisten, indem die Kerle die Signalgeber in der kritischen Zone platzierten.«
»Genau das«, bestätigte Kirner. »Und die Tiere, die nicht rechtzeitig verschwanden, wurden zu Fischfutter verarbeitet.«
»Gute Arbeit, Herr Kollege«, witzelte Trevisan. »Dann schlage ich vor, wir schnappen uns Liebler.«
Kirner schüttelte den Kopf. »Nicht heute und nicht so. Morgen habe ich alle Unterlagen zusammen. Und dann besorgen wir uns einen Durchsuchungsbeschluss und gleich noch den dazugehörigen Haftbefehl. Wir setzen dem Luxusleben unseres kleinen Beamten ein Ende und verschaffen ihm eine Zelle, wo er über seine Taten hoffentlich eine lange Zeit nachdenken kann.«
43
Nüchterne Gänge, weiß getünchte Wände in Neonlicht getaucht, hier und da ein Farbtupfer, der sich bei näherer Betrachtung als Pop-Art-Druck eines namenlosen Meisters der Moderne herausstellte und genauso penetrant für das Auge war wie die ekelhaften chemischen Ausdünstungen von Desinfektionsmittel für den Geruchssinn. Der Ort hatte etwas Trauriges, etwas Abstoßendes und etwas Unwiderrufliches.
Johannes Hagemann würde sich nie an Krankenhäuser gewöhnen. In den letzten Jahren hatte er viel Zeit an solchen Orten zugebracht, in denen das eigene Los so wie die Schicksale der anderen Patienten in braune Aktenordner verpackt wurde, die Schränke füllten. Aber heute war die Situation besonders grotesk. Opfer und Täter waren gerade mal durch eine sechzehn Zentimeter dicke Wand getrennt.
Töngen ging es mittlerweile den Umständen entsprechend gut. Er war wach und konnte sich sogar an einen Teil des Vorfalles vom 30. Dezember des letzten Jahres erinnern. Er wusste, warum die Männer gekommen waren. Ihre steten Fragen nach Friederikes Aufenthalt und ob Larsen ihm etwas erzählt oder gar zur Aufbewahrung gegeben habe, begleitet von Schlägen und Tritten, hatten sich genauso tief in seinem Gedächtnis verankert wie die Gesichter seiner Peiniger. Für ihn war es kein Problem, aus den zwölf Fotografien, die Kleinschmidt in Windeseile erstellt hatte, die beiden Männer herauszufinden, die für seinen Aufenthalt auf der chirurgischen Station verantwortlich waren. Einer lag in der Leichenschauhalle und der andere hier im Nebenzimmer. Zwar saß zur Bewachung ein Polizist bei dem Mann, doch wahrscheinlich hätte der sowieso keinen Fluchtversuch unternommen. Eine Kugel hatte seine Kniescheibe zertrümmert. Das Bein würde wohl für alle Zeit steif bleiben.
Nach der Anhörung des Opfers betraten die beiden Kriminalbeamten das Zimmer des Täters. Der Mann hatte vor der Haustür von Onno Behrend Posten bezogen und auf die Kollegen von der Polizeistation Norderney gefeuert, ehe diese ihrerseits von der Waffe Gebrauch gemacht hatten. Er lag allein in dem Dreibettzimmer und starrte an die Decke. Sein rechtes Handgelenk war mit Handschellen am Bettgestell befestigt.
Johannes
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