Die Wiege des Windes
blickte ab und an durch das Fernglas. Der Schäfer, der Schlüssel zu ihrem Ziel, war den ganzen Tag noch nicht aufgetaucht.
Er hatte sich überlegt, einfach am Haus auf ihn zu warten, aber was, wenn sich dort ein Besucher aufhielt? Nein, er musste hier ausharren. Morgen früh würde das Boot eintreffen. Negrasov hatte ihm befohlen, keine Alleingänge zu unternehmen und nichts zu riskieren. Daran würde er sich halten.
Er zog seinen Thermoschlafsack aus der Schutzhülle und legte ihn über seine Beine. Diese verdammte Insel, dachte er. Noch nicht einmal einen Wagen gab es hier, in den er sich hätte setzen können, um dieser beißenden Kälte zu entkommen. Es kam ihm vor, als wäre hier die Welt zu Ende. Wenn es noch kälter werden würde, dann blieb ihm keine andere Wahl, als sich auf sein kleines Kajütboot zurückzuziehen, das im Hafen vor Anker lag. Wenigstens den frostigen Böen würde er dort nicht länger ausgeliefert sein. Er blickte auf seine Uhr. Die grünen Leuchtziffern signalisierten, dass ihm noch eine lange Nacht bevorstand.
Die Frau war zu einer Schlüsselfigur in diesem Spiel geworden, das er längst verloren wähnte. Das stete Hin und Her machte allen zu schaffen. Vor allem aber Romanow, den er in den letzten Tagen nur noch gereizt und wutentbrannt erlebt hatte, nachdem dieser bleiche Computerfreak eingestehen musste, dass er nicht alle verlorenen Daten ohne die CD wiederherstellen konnte. Larsen hatte ganze Arbeit geleistet. Er hatte nicht nur den Datenträger gestohlen, sondern auch noch den Computer und einen Teil der Ausrüstung unbrauchbar gemacht, indem er einen Eimer Wasser darüber geleert hatte. Aber diese Rechnung war beglichen, wenn er sich auch viel zu früh aus dem Staub gemacht hatte, aus dem Staub für immer.
Er wusste, obwohl Romanow über die weiteren Pläne schwieg, dass sie in die entscheidende Phase eingetreten waren. Schließlich war er kein Idiot. Am meisten fuchste ihn, dass er sich in letzter Zeit so manches gefallen lassen musste. Gut, einiges war schief gelaufen. Larsen, das Mädchen, das Debakel auf dem Schiff, aber das waren nur kleine Details. Der größte Feind des Unternehmens war die deutsche Bürokratie. Und daran konnten nicht einmal Pistolen und Bomben etwas ändern. Romanow hatte sich das falsche Land ausgesucht. Dem ging der Arsch auf Grundeis, weil ein Teil der Gelder schon ausgegeben war und er nicht mehr zurück konnte. Russische Investoren dieses Kalibers drohten nun mal nicht mit Gerichten und einstweiligen Verfügungen. Irgendwann landete ein Flugzeug und der Geldeintreiber stieg aus. So einfach war das.
Diese Nacht und die morgige Aktion wären sein letzter Beitrag zum Gelingen des großen Planes. Wenn auch diesmal wieder etwas schief ginge, dann wäre es an der Zeit, die Koffer zu packen und ein neues Betätigungsfeld zu suchen.
Aber dann etwas näher am Äquator.
Die Kälte wurde langsam unerträglich. Er blickte durch das Fernglas auf das knapp hundert Meter entfernte kleine, schmuddelige Haus mitten im Nichts dieser gottverdammten Insel, durch dessen verschmierte Scheiben Licht nach draußen fiel. Der Kerl war zu Hause, das stand zumindest fest. Und morgen früh würde man weitersehen.
*
Martin Trevisan parkte den altersschwachen Corsa um kurz nach sieben in seiner Einfahrt und ging zu Fuß hinüber zum Haus von Tante Klara. Seine Tochter war schon fast drei Tage hier und er hatte noch keine Zeit gefunden, sich ausgiebig mit ihr zu unterhalten.
Noch bevor er klingelte, öffnete Tante Klara. Verschwörerisch legte sie den Zeigefinger vor die Lippen. »Psst! Sie schaut Fernsehen. Komm, wir müssen reden!« Sie zog Trevisan in den Flur und schob ihn schließlich ins Schlafzimmer. »Weißt du eigentlich, wie es in deiner Tochter aussieht?«
Trevisans schlechtes Gewissen meldete sich mit einem kräftigen Stich in der Herzgegend. »Ich … es tut mir leid …«
»Davon kann sie sich auch nichts kaufen«, entgegnete Tante Klara. »Sie wird überall nur noch herumgeschubst. Deine Frau ist ständig unterwegs und ihre Freundin, bei der sie untergekommen sind, hat keine Kinder, und der ist das Mädchen gleichgültig. Ständig wird geschimpft. Paula, sei leise, Paula, hör auf, Paula, setz dich hin. Fernsehen ab Mittag, Video und Gameboy, alles, um sie ruhig zu stellen. Noch nicht einmal Freunde hat sie. Paula ist immer noch eine Fremde in Kiel. Und nun ist sie bei dir und du bist genauso wenig für sie da wie ihre Mutter, die offenbar an einem neuen
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