Die wilde Gärtnerin - Roman
ihrer Tochter auf zuckerfreie Ernährung, wodurch Schokolade für Helena zum Verbotensten und Begehrlichsten wurde. »Darf ich auch eines haben?«, flüsterte sie ihrer Uroma zu.
Diese hörte ihre Ur-Enkelin überraschenderweise glockenklar, griff in die Tasche und überreichte ihr ein kleines dunkelbraunes Drops. Helena erkannte gleich nachdem sie die Bohne in ihren Mund gesteckt hatte, welchem Wahnsinn sie in die Falle gegangen war. Die Kaffeebohne brannte ihr auf der Zunge, ihr wurde übel vom Geruch in ihrem Mundraum, nur befürchtete sie, als unhöflich zu gelten, wenn sie die Großzügigkeit ihrer Uroma verschmähte und die Bohne gleich wieder ausspuckte. Helena versuchte die Bohne in der Mitte ihrer Zunge zu balancieren. Ihre Speichelproduktion arbeitete gegen sie.
Magda schloss die Augen und genoss das Aroma. Die Kaffeebohne klapperte am Gaumen ihres künstlichen Gebisses. Sie überlegte, ob der Geschmacksverlust mit dem Verlust ihrer Zähne zusammenhängen konnte. Doch das Essen hatte ihr schon nichts mehr gegeben, als ihre Zähne noch fest im Zahnfleisch saßen. Schon bald nach dem Krieg hatte das angefangen mit dem schwindenden Genuss. Als es ’47, ’48 wieder was zu beißen gegeben hatte, merkte sie es recht bald und dann wurde es immer offensichtlicher. Zunächst war die Freude groß. Wurst, Speck, Eier, Schokolade, alles war wieder zu haben. Die Auslagen der Fleischer bogen sich vor Waren. Wir haben’s geschafft, hatte Magda sich damals gedacht, die Drecksjahre sind vorbei, das Elend können wir vergessen. Das Überleben haben wir hinter uns gebracht, jetzt konzentrieren wir uns auf das Leben. Aber auf einmal hatte ihr die Melange nicht mehr geschmeckt. Jedenfalls nicht so wie früher. Der Kaffee war so dünn, als hätte man eine halbe Bohne durch lauwarmes Wasser gezogen. Und dann fiel es ihr überall auf. Heiße Schokolade, die sie schon als Kind geliebt hatte, konnte sie nicht mehr trinken, denn statt Genuss blieben lediglich braune Schlieren am – damals noch echten – Gaumen zurück. Von da an zog sich diese Geschmackslosigkeit durch alle Lebensmittelgruppen. Bis hinein in die Gewürze. Zuletzt war das Salz nicht mehr salzig und Zucker wie Pfeffer. Alles gleich, alles neutral.
»Uroma«, sah Helena sich gezwungen, drastische Maßnahmen zu ergreifen. Gestank und Spucke in ihrem Mund waren ihr unerträglich geworden. »Darf ich die Bohne ausspucken, bitte?«
»Na freilich, was fragst denn«, gab Magda zur Antwort. »Ich weiß, schmeckt nicht mehr wie früher, ich kann nix dagegen machen.« Helena legte die Bohne auf ihre Serviette neben den Teller. Den Speichel musste sie schlucken. Magda lächelte sie an. »Puppi, wie ich so alt war wie du, da hat’s so herrliche heiße Schokoladen geben, das kannst dir gar nicht vorstellen, so was gibt’s heutzutage nicht mehr. Ich weiß nicht, warum. Überall bekommt man nur diesen nichtssagenden Dreck. Früher, ich sag dir, wenn meine Mama mit mir ins Kaffeehaus gegangen is – was eh selten genug war, weil wir waren sehr arme Leute, sehr arm, das kannst dir heut gar nicht mehr vorstellen –, da hab ich einen Kakao getrunken, wo ich glaubt hab, ich beiß direkt in die Kakaofrucht, so hat das geschmeckt. Fett, rund, ein bissl bitter. Köstlich.« Helena wusste nicht ganz, wovon ihre Uroma redete, denn sie bekam nur ungesüßte Kräutertees von ihrer Mutter. Wenn aber Kakao so ähnlich schmeckte wie diese Kaffeebohne, dann konnte sie ohnehin darauf verzichten. »Weißt was, Puppi? Schau, ich hab was für dich.« Magda fummelte an ihrer Brosche. Aber ihre Finger waren genauso störrisch wie ihre Beine. Sie brachte die Spange nicht auf. »Na geh«, ärgerte sie sich, nahm jedoch den Vorfall als eindeutiges Zeichen, mit dieser Brosche nichts mehr zu tun haben zu wollen. »Warte, Magda«, kam ihre Schwiegertochter zu Hilfe.
»Puppi, ich schenk dir die Brosche, pass nur auf mit der Nadel, dass du dir nicht wehtust, gell.«
Helena nickte, nahm das Schmuckstück in Empfang und betrachtete es mit offenem Mund. »Die ist aber schön, die glitzert so bunt. Was ist das?«
»Quarz-Kristalle. Die hab ich vom Kaiser. Hat er mir
persönlich
geben.« Helena streichelte mit ihrem Zeigefinger über die Brosche.
»Warum hat der Kaiser dir das geschenkt?«
»Weil er ein großzügiger, feiner Mensch war, der sein Volk geliebt hat. Solche Leute gibt’s heutzutage nicht mehr.«
Anton fiel seiner Mutter nicht ins Wort. Er bezweifelte, dass früher alles besser
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