Die wilde Gärtnerin - Roman
Verwandte massakrieren, war das bei Sozialfällen also tatsächlich üblich? Ihr Vater behauptete das ja immer wieder. Wenn Polizei und Rettung im Hof des Gemeindebaus auffuhren, Ehemänner in Handschellen und Frauen mit verschwollenen Gesichtern im Rettungswagen abtransportiert wurden, sagte Herr Strabeck gern: »Diese Leute können sich einfach nicht benehmen.«
»Wiederholst du bitte mit eigenen Worten, was du verstanden hast?«, wurde Toni von Helen aufgefordert. Leda hatte erst kürzlich die vier Grundregeln gewaltfreier Kommunikation mit Helen durchgemacht und die erste lautete, sich den Inhalt des Gesagten vom Gesprächspartner wiedergeben zu lassen.
»Ich soll mit Onkel Ludwig nicht allein sein, sondern ihn zusammenschlagen?«, memorierte Toni die gelernte Lektion.
»Na ja, so in etwa«, ließ es Helen gut sein. Obwohl sie wusste, dass sie noch länger nachhaken müsste.
Am Abend erzählte Helen ihrer Mutter die Geschichte von Tonis Onkel. Leda war ernst und gefasst. »Das ist wieder typisch. Wollen die totale Kontrolle für außen, übersehen die reelle Gefahr von innen. Typisch patriarchale Strukturen.« Leda war schon des Längeren von Tonis Eltern angewidert. Helen hatte sie auf das Ausführlichste über die familiären Zwänge unterrichtet und Leda sich strikt an die Abmachung gehalten, sich auf gar keinen Fall einzumischen. Jetzt ärgerte sie sich über Tonis Mutter, die sie zwar nicht kannte, sich aber bestens vorstellen konnte. Eine Frau, die nur harmonisieren wollte, das kannte Leda zur Genüge von zuhause. Und auch der Männer-Typus Strabeck kam ihr bekannt vor. Von denen ließ sie sich nicht zur Mittäterin machen. »Du weißt, ich werde jetzt rübergehen und das mit Tonis Eltern besprechen. Ich kann die Sache natürlich nicht auf sich beruhen lassen. Gehst du mit?«
Helen schaute ihre Mutter zerknirscht an. Was, wenn Toni wegen ihr in Schwierigkeiten geriete, nur weil sie Tonis Geheimnis nicht für sich behalten konnte?
»Okay, ich geh mit«, nagte die unauflösliche Diskrepanz von Schweigen und Reden in ihr.
»Guten Abend, Frau Strabeck«, begrüßte Leda Hannelore Strabeck an der Haustür, die nur einen Spalt breit geöffnet wurde. »Ist ihr Mann zuhause? Ich möchte etwas mit Ihnen beiden besprechen.«
»Ja, mein Mann«, sagte Frau Strabeck und war sich unsicher, was sie von Ledas Besuch halten sollte.
»Ich muss unbedingt mit Ihnen beiden reden«, drängte Leda, die das Zögern von Frau Strabeck kaum aushielt.
»Erwin, kommst du bitte!«, schrie Hannelore ins Innere. Dann schaute sie verlegen an Leda vorbei.
»Bitte?« Erwin Strabeck erschien und öffnete die Tür so weit, dass sie fast aus den Angeln sprang.
»Guten Abend, Herr Strabeck, mein Name ist Cerny, ich bin die Mutter von Tonis Klassenkollegin ...«
»Ich weiß, wer Sie sind. Was wollen Sie hier?« Erwin Strabeck wollte seinen Feierabend nicht mit dieser bunten Frau verschwenden. Ihm war es schon zu viel, dass sie auf seiner Türschwelle stand.
»Ich muss mit Ihnen über Ihre Tochter sprechen, vertraulich. Es geht um eine heikle Angelegenheit. Kann ich bitte hineinkommen?«
Herr Strabeck hatte dazu nicht die geringste Lust. »Sagen Sie, was Sie wollen und dann gehen Sie.«
»Gut, dann eben in aller Öffentlichkeit. Ich habe den Verdacht, dass Ihre Tochter von einem Ihrer Verwandten sexuell genötigt wird. Wenn Sie dem nicht auf den Grund gehen und Toni vor weiteren Übergriffen dieses Mannes schützen, werde ich Anzeige erstatten und die zuständigen Behörden in Kenntnis setzen.«
»Sie drohen mir? Sie Verrückte! Was erlauben Sie sich? Verschwinden Sie sofort von meinem Grundstück!« Erwin Strabecks Blutdruck war gestiegen, das merkte auch Leda. Er wollte die Tür zuschlagen, aber Leda hatte ihren Fuß in den Rahmen gestellt. Sie drückte die Tür auf, Herr Strabeck stolperte nach hinten. »Ich ruf die Polizei!«, schrie er.
Obrigkeitshöriges Würschtl, dachte Leda. »Hervorragend«, sagte sie, »dann kann ich bei der Gelegenheit gleich meine Anzeige machen.« Eigentlich wollte sie Aggression und Polemik aus dem Gespräch heraushalten. »Herr Strabeck, ich möchte mit Ihnen in aller Ruhe über die Vorwürfe sprechen. Ihre Tochter hat einen Onkel erwähnt. Wissen Sie überhaupt davon?«
Frau Strabeck zog Luft ein, ein hoher Ton entkam ihr dabei. Sie hielt sich beide Hände vor den Mund. »Was weiß ich, was das Kind zusammenfantasiert«, wiegelte Herr Strabeck ab.
»Missbrauchsberichte von Kindern
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