Die wilde Gärtnerin - Roman
Am liebsten würde ich Toni anrufen, damit sie mich abholt, aus diesem Gewimmel befreit, mich in mein Haus, meinen stillen Garten bringt. Aber mein Handy hat mich auf meine kuriose Einkaufstour nicht begleitet. Stehe im Strom der Fußgänger wie ein unnötiger Werbeständer, der jedem nur lästig ist, dem alle ausweichen, als würde Kontakt mit ihm Scheiße im Schuhprofil hinterlassen. Stehe regungslos im Gegenstrom, aus dem mir Wortfetzen klar und deutlich zufliegen.
»Umso kurzfristiger und entfernter Investitionen von der Realwirtschaft sind, desto höher die Finanztransaktionssteuer.« – »Das konnten wir doch jahrelang beobachten, dass Liberalisierung zur Enteignung der Gesellschaft führt.«
Mein Mund steht offen wie bei einer, die anders nicht denken kann.
»Da sind wir uns ja glücklicherweise alle einig, dass sozial sinnvolle Finanzpolitik für Umverteilung von oben nach unten sorgt, für flächendeckend günstige Kredite, hohes Realeinkommen und niedrige Finanzrenditen.«
Leidet meine Spracherkennung derzeit an Unterversorgung? Verhöre mich vielleicht oder möchte mich verhören. Aber scheinbar sind lauter Bertas unterwegs. Ein Paar bleibt unweit von mir stehen. Beide schlecken Tüteneis. Der männliche Teil des Paares sagt: »Das ist freilich ein gesellschaftlicher Transformationsprozess, der wirtschafts- und bildungspolitische Begleitmaßnahmen braucht, aber die Vorteile des bedingungslosen Grundeinkommens, nämlich selbst gewählte, unbezahlte Tätigkeiten existenzgesichert ausüben zu können, sind nicht von der Hand zu weisen.«
Seine Gesprächspartnerin pflichtet ihm bei: »Schau mal, das veraltete Wirtschaftssystem, das eine Ausgeburt der Wirtschaftswunderjahre ist, kann doch nur noch funktionieren, indem gesellschaftlich wertvolle, aber unbezahlte Arbeit völlig ausgeblendet wird.« Er sagt: »Ja eben, weil diese einseitige Leistungsideologie ausschließlich Erwerbsarbeit bewertet, aber das hat jetzt ein Ende.«
Zwei Frauen kommen an mir vorbei.
»Tauschen, nutzen und teilen, alles andere dient nur dazu, eine Wirtschaftsblase ohne realen Wert aufzublähen. Wir brauchen kein ständig steigendes Wachstum. Wir brauchen eine gediegene Versorgung unserer geistigen, sozialen und biologischen Grundbedürfnisse und Zeit für Lebensqualität.«
Drehe mich langsam um und reibe mir die Augen. Aber meine Traumstimmung lässt sich nicht vertreiben, denn auch hinter mir stehen diskutierende Kleingruppen beisammen.
»Du wirst sehen, immer mehr werden immer öfter Mitsprache einfordern«, sagt eine aus der Gruppe. »Gewinne privatisieren, Verluste vergesellschaften, das haben wir uns lang genug gefallen lassen!« Einhelliges Kopfnicken in der Diskussionsrunde.
Anscheinend haben Bertas Aktionen breitenwirksam eingeschlagen. Grüble, ob sich während meiner fast dreijährigen Quarantäne ein neuer Menschenschlag gebildet hat – und wie groß Bertas Beteiligung an dieser Veränderung war. Möglicherweise ist das alles aber nur meiner Überforderung und meinem Unterzucker zuzuschreiben. Brauche einfach eine Verschnaufpause, dann werden die Gespräche rund um mich schon wieder die herkömmliche Form hilflosen Jammerns annehmen. Sehe einen Bettler mitten auf der Mariahilfer Straße sitzen. Bettler sind immer Garanten für erstarkte hierarchische Strukturen und Symbole altbewährter Machtverhältnisse, würde Berta sagen. Er ist um die Fünfzig, gepflegt, in sauberer Kleidung, sieht verzweifelt, aber nicht hoffnungslos aus. In seinen Pupillen spiegelt sich Enttäuschung wider, aber auch ein Blitzen, das auf ein intaktes Räderwerk hinter seinem Stirnlappen schließen lässt. Fühle mich zu mitgenommen, um sein Schild vor ihm zu lesen. Es ist dicht mit Schrift überzogen und sieht aus, als hätte er seinen letzten Schulaufsatz ausgestellt.
»Ist Ihnen eigentlich klar, in welcher ausweglosen Situation Sie sich befinden? Mit welcher Symbolkraft Ihre Tätigkeit aufgeladen ist? Sie stehen für den Albtraum der Arbeitswelt. Sie sind eine Fleisch gewordene schlaflose Nacht. Sie verkörpern alles, wovor die meisten seit Kindesbeinen an gewarnt wurden. Sie halten den Motor der postkapitalistischen Warengesellschaft am Laufen und sind gleichzeitig ihr wichtigstes Nebenprodukt. Sie fungieren als Schreckgespenst des Misserfolgs, ohne das die Leistungsgesellschaft funktionsunfähig wäre. Leider befinden Sie sich in der sogenannten Zwickmühle. Bleiben Sie hier sitzen, arbeiten Sie dem dominanten, leistungsorientierten
Weitere Kostenlose Bücher