Die wilde Gärtnerin - Roman
krank macht.«
Ihre Sitznachbarin war baff. »In meiner Schultüte sind Buntstifte und Ölkreiden, du Gemeindebaukind.« Es wäre doch gelacht, wenn dieses Kind einer Irren nicht endlich verstummen würde.
»Die hab ich auch. In meinem Rucksack. Wie heißt du überhaupt?« Helena reichte es mit dem konsumsüchtigen Barbiepüppchen, das noch nicht einmal wusste, wie abhängig und unterdrückt es war.
»Antonia, aber ich nenn mich Toni, das gefällt mir besser«, sagte das Samtmädchen.
Helena grinste. Anscheinend verrieten rosa Schultasche und Samtkleid nicht alles über ihre Sitznachbarin. »Ich heiße Helena, aber nenne mich Helen.«
»Ich finde Helena auch schön, weshalb gefällt dir der Name nicht?«, fragte Toni.
»Weil er zu geschwollen klingt. Außerdem war Helena eine Frau, wegen der sich ur viele Männer umgebracht haben. Wie so eine will ich nicht heißen.« Leda hatte Helen schon früh die Geschichten des klassischen Altertums nahegebracht. Selbstverständlich war sie besonders lange beim Trojanischen Krieg aus Sicht der schönen Helena geblieben. Aber Helen mochte deren Sicht nicht. Wie kann sich eine zurückziehen und nichts sagen, wenn wegen ihr Morde passieren? Die hätte einschreiten müssen. Die hätte sofort befehlen müssen, dass sich keiner mehr wegen ihr streiten darf. »Dumme Kuh«, bedachte sie ihre Namenspatronin und nannte sich Helen.
Toni hätte noch gerne mehr über tote Männer erfahren, doch Helen richtete ihre Augen auf die Volksschullehrerin, die soeben das Klassenzimmer betrat. Alle Kinder standen auf. Die Lehrerin trug kurzes, lockiges Haar, in dem blonde Strähnchen aufblitzten, einen Strickpullover mit Schulterpolstern, einen Rock bis zu den Waden und Holzclogs mit Stöckeln. Helen war sofort von ihr hingerissen. Weiße, leicht übereinanderstehende Schneidezähne im Oberkiefer der Lehrerin lachten sie an. Die goldenen Ohrstecker mit eingefassten Perlen blitzten. »Bitte setzt euch«, sagte sie und legte das Klassenbuch auf den Lehrertisch. Helen fixierte sie und vergaß dreiundzwanzig Schüler rund um sich.
»Wir können nicht gemeinsam rausgehen«, entschied Toni nach Schulschluss. »Meine Mutter steht draußen, die darf uns nicht zusammen sehen. Ab morgen hab ich sie bestimmt abgeschüttelt. Wir treffen uns um dreiviertel acht an der Straßenecke, da können mich meine Eltern nicht mehr sehen.« Noch bevor sie im Inneren des Schulgebäudes für ihre Mutter sichtbar wurde, trennte sie sich von Helen. Die schmunzelte über den verwegenen Ungehorsam ihrer Freundin, obwohl sie nicht verstand, was so schlimm daran war, mit ihr zu sprechen. Vor allem, weil Toni während der Schulzeit sowieso ständig an ihrer Seite war. Es sollte sehr lange dauern, bis Helen die Einstellung von Tonis Eltern umfassend begriff.
Das Haus der Familie Strabeck lag schon am Rande der Stadt, als ringsum noch unbebautes Ackerland grünte. Erwin Strabeck war gegen sozialen Wohnbau im Allgemeinen und gegen Plattenbauten vor seiner Haustür im Speziellen. Er war stolzer Besitzer eines Fertigteilhauses. Als Bagger vor seiner Tür die brachen Ackerfurchen erheblich vertieften, streifte er seine beschmutzten Schuhe verächtlich an der »Home-sweet-Home«-Matte ab. Er fügte sich in sein Schicksal, fortan unmittelbar neben einem Unterschichtghetto zu wohnen. Selbstredend nicht ohne verbalen Widerstand zu leisten, der jedoch ausschließlich in den eigenen vier Wänden vorgebracht wurde. Für ihn waren Bewohner von Gemeindewohnungen grundsätzlich
verdächtig
. Von Anfang an war klar, dass keines seiner Familienmitglieder jemals Berührung mit irgendwelchen Bewohnern dieser Bauten suchen würde. Das ließe er nicht zu. Die Strabecks gehörten zu den ersten privaten Haushalten mit Videokameras für den gesamten Wohn- und Gartenbereich, sowie einer um das Grundstück verlegten Alarmanlage. Die Welt oder zumindest Wien wäre ohne sozialen Wohnbau ein guter Ort gewesen, war Erwin Strabeck sicher. Aber wo man ordentlichen, braven, ehrlichen Steuerzahlern diese Sozialschmarotzer vor die Nase setzte, galt es auf der Hut zu sein. Toni durfte weder den öffentlichen Kindergarten besuchen, noch auf den nahe gelegenen Spielplatz gehen oder irgendjemanden außerhalb des Strabeck’schen Bekannten- und Verwandtenkreises ansprechen. Obwohl Toni nichts mehr faszinierte als die Menschen und Kinder vor ihrem Gartenzaun. Oft beobachtete sie die Vorübergehenden von ihrem Kinderzimmerfenster aus, als wären sie gefährliche
Weitere Kostenlose Bücher