Die wilde Gärtnerin - Roman
Interrailreise zugestimmt, um der wachsenden Entzweiung entgegenzuwirken, um sie zu überbrücken, um sie zu negieren.
»Schließlich haben wir was zu feiern.« Toni hob ihren Plastikbecher. »Ihr habt die Matura überstanden, und ich werde bald meine Shiatsu-Praxis eröffnen. Auf die kommenden vier Wochen, die letzten Wochen in absoluter Freiheit!«
»Wir schlafen einfach nicht!«, hatte Toni vorgeschlagen. »Dadurch ersparen wir uns die lästige Zimmersuche und jede Menge Geld.« Um drei Uhr nachts am Markusplatz wurde Helen jedoch die Zeit zu lang und vor allem zu kühl. Sie bibberte trotz Windjacke. Leo gähnte unentwegt. Tonis Sarong war durch enge Jeans, Sneakers und ein oranges Kapuzenshirt über einer Blumentunika ausgetauscht worden. Ihre Begeisterung war ungebrochen. »Schaut da oben! Habt ihr das gesehen? Toll, oder?«, machte sie die beiden schon wieder auf etwas aufmerksam. Doch Helen und Leo wollten nicht mehr begeistert sein. »Wisst ihr, was? Wir holen uns einfach unsere Schlafsäcke und setzen uns auf die Promenade bei der Via Garibaldi. Bald gibt’s den Sonnenaufgang zu sehen«, widerstand Toni der sinkenden Motivation.
»Wir gehen schon mal vor, komm du mit unseren Schlafsäcken nach«, war Leos Korrektiv für eine, die noch immer Energie hatte.
Nach einer ziemlich langen Phase des Schweigens waren Helens erste Worte: »Das ist wirklich wunderschön.« Im Schlafsack wurde ihr wieder warm. Der Platz an der Promenade war ideal, um das Plätschern des Meeres zu hören. Die salzige Luft roch nach Sommer, das blutrote Band, das die aufsteigende Sonne vor sich her aus dem wässrigen Horizont schob, war grandios. »Siehst du«, dachte Helen, »das hättest du in der Jugendherberge nicht erlebt. Ganz gut also, dass du dich auf Tonis Wahnsinn eingelassen hast.« Sie schmunzelte über die Leichtigkeit ihrer Freundin, die alle Unbill des Lebens einfach ausblenden konnte und sich ausschließlich auf jene Angebote des Lebensspektrums konzentrierte, die von erquickendem Interesse für sie waren. Helen nahm sich vor, in den kommenden Wochen nachsichtiger mit Toni zu sein, um den Spagat zwischen Tonis Turbotempo und ihrer und Leos Gemächlichkeit zu schaffen.
Toni war von Venedigs Morgenhimmel derartig beeindruckt, dass sie ihre Gefühle ausnahmsweise unkommentiert ließ. Und Leo war wie immer dankbar, das ambivalente Verhältnis zwischen seiner Freundin und Toni nicht durchblicken zu müssen. Um halb fünf, als die Sonne voll auf die Häuserfassaden knallte, brach die Truppe zum Bahnhof auf. Müde, erleichtert über die überdauerte Nacht, aufgeputscht von dem Vogelgezwitscher, das ohne Touristengetrampel von den steinernen Plätzen widerhallte, glücklich, dass es zu keinem Streit gekommen war.
Die Herberge in Florenz war ein Glücksfall. Spottbillig mit Blick auf den Dom, wenn man sich weit genug aus dem Fenster lehnte. Dazu Klo und Dusche am Gang und mit einem Loch im Boden, über das ein kleiner Teppich drapiert worden war. Helen legte sich sofort schlafen. Leo begleitete Toni auf eine ausgedehnte Runde durch die Stadt. Als sie zwei Stunden später zurückkamen, war er sichtlich angeschlagen und Toni noch energetischer.
»Helen, wir haben schon ein Lokal für heute Abend gefunden und drüben, hinter der Ponte Vecchio, hab ich einen Club gesehen, da müssen wir unbedingt hin. Aber jetzt würd ich vorschlagen, dass wir uns schnell beim Campanile anstellen, die Warteschlange schaut momentan nicht so schlimm aus. Oder Leo, was meinst du?«
»Ja, also ...«, stotterte Leo und fiel ins Bett.
»Was ist los, du wirst doch nicht schlapp machen?«
»Also, ich brauch jetzt einen Kaffee und zu Profiteroles sag ich auch nicht Nein«, richtete sich Helen im Bett auf und stopfte zwei Pölster hinter ihren Rücken.
»Aber dann geht sich der Campanile nicht mehr aus! Der wird um sechs zugesperrt. Dann können wir erst morgen hinein, wo wir uns schon die Uffizien anschauen wollen. Und wie ich dich kenne, bist du danach total fertig.«
»Bevor du hier Stress machst, schaust du dir die Stadt eben alleine an.« Helen sprach erstmals die Möglichkeit einer Abspaltung aus. Zuvor war unhinterfragt davon ausgegangen worden, die Reise – und zwar jeden Moment davon – gemeinsam zu verbringen. Toni zog ihre hübschen Augenbrauen zusammen. Allein durch Europa zu laufen war nicht ihre Definition von Interrail. Von Alleinsein hatte Toni in ihrer Kindheit ausreichend ausgefasst. Alleinsein war wie Nicht-mitspielen-Dürfen
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