Die wilde Gärtnerin - Roman
und das missfiel ihr. »Na gut, dann gehen wir eben ins Café«, gab sie klein bei.
Rom war größer. In Rom gab es noch mehr zu sehen. Das Zimmer war heruntergekommen. Aber Toni brauchte kein Zimmer, wenn vor dem Hostel eine ganze Stadt auf sie wartete. Gebäude, Ausstellungen, einen Aussichtspunkt nach dem anderen ließ sie auf sich wirken. Weder Quantität noch Geschwindigkeit strengten sie im Geringsten an. Sie hätte am liebsten alles gleichzeitig erfahren, damit die Empfindung noch intensiver wäre. Was sie allerdings störte, war, Helen und Leo hinter sich herschleifen zu müssen. Die beiden zu jedem spontanen Einfall zu überreden und für alles Überzeugungsarbeit leisten zu müssen, kotzte sie an. »Wie kann man denn nur so träge sein?«, regte sie sich auf, als Helen nicht mehr weitergehen wollte.
»Du, für mich war das genug an einem Tag«, entgegnete Helen und setzte sich auf eine Steinbank. »Was bist du überhaupt so strebsam? In der Schule warst du da gelassener, was ich weiß.«
»Weil Schulwissen ja auch keine braucht«, meinte Toni schnippisch. Sie spielte auf Helens makelloses Maturazeugnis an – in der
gegenderten
Form, die sie von Leda gelernt hatte. Helen verdrehte die Augen. Leo versuchte für beide einen Ausgleich zu schaffen. »Also, wenn du unbedingt willst, kann ich schon noch mitgehen, Toni, und du, Helen, gehst ins Hostel vor«, sagte Leo. Doch Toni war »Ich kann schon mitgehen« eindeutig zu wenig. Zu wenig Enthusiasmus, zu wenig Schwung, zu wenig eigener Antrieb. »Dann macht ihr halt mal Vorschläge! Sagt, was ihr machen wollt. Glaubt ihr, es gefällt mir, euch hinter mir herzuschleppen?« Sie verstand nicht, warum die beiden lieber Pausen machten, als die Stadt in sich aufzunehmen. Wie konnte man das Leben bloß so an sich vorbeiziehen lassen?
»Toni, ich möchte einfach an einem hübschen Platz sitzen, Leute beobachten, entspannen. Mehr nicht.« Helen hatte es satt, sich als Herdentier zu fühlen, dem keine Zeit zum Wiederkäuen gelassen wurde.
»Na bestens, dann machen wir eben das. Aber sofort. Ich halte dieses Herumgejeiere keine Sekunde länger aus.«
Am Abend überredete Toni die beiden zu einem Absacker in eine nahe gelegene Bar. Die zwei saßen mit schweren Augenlidern nebeneinander, hielten Händchen und gähnten abwechselnd. Als Helen »il conto, per favore« rief, wurden Tonis Füße unter dem Tisch unruhig. Sie wollte Leute treffen. Nicht still in einem dunklen Zimmer liegen und den regelmäßigen Atemzügen der beiden zuhören, während sich draußen vor den Fensterscheiben des Hostels die Menschen amüsierten. Menschen, die Toni kennenlernen wollte, die Aufregung in ihr Leben brachten. Sie konnte ihre Füße nicht länger stillhalten. »Wozu auch?«, fragte sie sich, »ich bin hier in Rom, das muss ich doch ausnützen.« Für Toni war das Leben ein Förderband, auf dem Geschenkpakete in unterschiedlichen Größen auf sie zurollten. Tonis Aufgabe lag darin, jene Pakete, die ihr am besten gefielen, zu öffnen und sich über deren Inhalt zu freuen. Sie sah diese Reise als Geschenk in Sondergröße an, mit vielen kleineren Päckchen im Inneren – und alle wollte sie auspacken.
»Ja, geht ihr schon mal voraus, ich mach noch eine Runde um den Häuserblock«, schlug sie vor.
»Mach das«, sagte Helen zufrieden. Tonis allabendliche Quirligkeit nervte sie. Wie ein Kind, das seinen Auslauf braucht, dachte sie. Ein Kind, das von seinen Eltern herumgehetzt wird, damit es müde ins Bett fällt. Doch die Eltern fallen früher. – »Gute Nacht«, winkte Leo schwach und entfernte sich mit Helen, die ihren Arm um ihn gelegt hatte. Toni schaute den beiden nach. Zusammen- und aneinandergeschnürt, dachte sie.
Helen erwachte bereits beim ersten Rascheln, Leo schreckte hoch, als die Tür krachend ins Schloss fiel und die Neonröhre an der Decke jede Ritze des Zimmers mit Licht flutete. Er saß senkrecht im Bett, als hätte ihm jemand Eiswürfel in seinen Nacken gepresst. »Bist du verrückt?«, schrie er Toni an.
»Nur ein bissl betrunken, ’tschuldigung.« Toni stand wankend neben dem Türrahmen und versuchte den Standort ihres Bettes zu eruieren. Helen tappte zu ihrer Uhr, es war vier. Sie drehte sich auf den Bauch, legte sich den Polster auf den Kopf und versuchte sich auf ihre Atmung zu konzentrieren. Unheilvolle Gedanken, die allesamt mit Toni und dem Interrailurlaub zu tun hatten, wollte sie einfach ziehen lassen. Toni steuerte ohne große Umwege auf ihr Bett zu, fiel
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