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Die wilde Gärtnerin - Roman

Die wilde Gärtnerin - Roman

Titel: Die wilde Gärtnerin - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena-Verlag <Wien>
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und ein Crescendo des Stöhnens setzte unter deutlicher Führung Tonis ein. Helen wollte den Geräuschen ihrer Freundin nicht folgen und wünschte sich, die Ohren zustopfen zu können. Am besten mit Wachs. Da fiel ihr plötzlich Odysseus ein und Ledas Interpretation des Kriegers und Seefahrers. Mit offenem Mund war Helen vor ihrer bunten Mutter gesessen und hatte den Geschichten Homers gelauscht. Leda erzählte von Sirenen und von männlicher Unfähigkeit, deren Gesang zu verstehen. Immer würden Männer den Untergang suchen, wo lediglich reine Schönheit existiere, so Leda. Während Frauen das Leben besangen, hatten Männer nichts Besseres zu tun, als an schroffen Felsen zu zerschellen. Die Sirenen sangen aus Freude und erfüllten damit ihre Zuhörer mit Glück. Doch Männer neigten zum Fatalismus und könnten mit Glück nicht umgehen. Sie seien unfähig, ein ausgewogenes Mittelmaß zu finden, weil sie unentwegt in Extreme flüchteten. Odysseus sei hierfür typisch gewesen, behauptete Leda. Unter dem patriarchalen Vorwand des Schutzes verbot er seiner Mannschaft den Kunstgenuss und ließ sich selbst an den Schiffsmast fesseln. Eine völlig unpassende Art, mit Musik umzugehen. Helen schmunzelte in die Nacht des Herbergszimmers. Sie dachte, dass ihre Mutter wirklich durchgeknallt war, und Toni, die sich nebenan zum dreigestrichenen A vorarbeitete, eine Sirene sein musste.
    In Paris hatte das mehrere Stockwerke hohe Hostel aus den Siebzigern nur noch drei Plätze in einem Achtbett-Zimmer frei. Toni, Helen und Leo zuckten die Schultern. Sie hatten ohnehin nicht vor, oft zuhause zu sein. Louvre, Museum d’Orsay, Tuilerien, Eiffelturm, Montmartre wollten neben Notre Dame und Sainte-Chapelle besichtigt werden. Helen hoffte, Toni ginge nach dem Intermezzo mit Paul gedämpfter vor, obwohl sie wusste, dass sich Sirenen nie erholen mussten, selbst wenn Scharen von Schiffsbrüchigen vor ihren Felsen im Meer trieben. Und tatsächlich hatte Toni bereits am ersten Abend ein neues Opfer gefunden. Wie und wann genau, war Helen rätselhaft. Toni war die ganze Zeit über bei ihnen gewesen. Sie hatte mit ihnen im Bistro gegessen, war danach auf ein Glas Wein mitgekommen und gemeinsam mit ihnen ins Hostel zurückgegangen. Trotzdem sagte sie nach dem Frühstück: »Ich werde mich heute mit Rob treffen, den hab ich gestern kennengelernt.« Dann zwinkerte sie noch schief grinsend und meinte: »Macht euch keine Sorgen, wenn ich nicht nachhause komme.« Was sie auch tatsächlich nicht tat und Helen sich überlegte, wo in Paris nun Tonis Sirenen-Gesang erschallen würde.
    Zum Frühstück am nächsten Tag tauchte Toni auch nicht auf. »Rob wird sich eben gut um sie kümmern«, meinte Leo. Oder sie sich um ihn, dachte Helen. Als sie am Abend in ihr Zimmer kamen und kein Zeichen vorzufinden war, dass Toni zwischenzeitlich vorbeigeschaut hatte, spürte Helen wachsende Unruhe. »Sexuell aktiv«, bemerkte Leo. »Hoffentlich!«, sagte Helen.
    Toni blieb die zweite Nacht fern und tauchte auch am folgenden Morgen nicht auf. Helen redete sich zu, Toni würde sich schon melden, falls sie etwas bräuchte, sie käme bestens alleine zurecht und wüsste sich durchzusetzen. Aber als Leo gestand, ihm käme das ebenfalls komisch vor, gingen sie zur Rezeption des Hostels und fragten, was sie tun sollten. »Sie ist zwar unbekümmert, aber so auch wieder nicht«, charakterisierte Leo Toni dem Typen vom Empfang. Der meinte, für eine Vermisstenanzeige sei es noch zu früh. Erst nach dem dritten Tag könnten sie zur Polizei gehen, die gleich um die Ecke läge, gehen. Trotzdem übergab er ihnen vorsorglich einen Abzug von Tonis kopiertem Pass. Helen bemerkte, wie ihre Gedanken ständig um ihre Freundin kreisten. Wo war sie und vor allem – in welchem Zustand? »Wir hätten sie zu diesem Rob befragen sollen. Wir wissen weder wie er heißt noch wie er ausschaut oder wo er wohnt«, machte sie sich Vorwürfe. »Wir hätten uns ausmachen sollen, dass sie hier im Hostel anruft. Irgendwo hätte sie schon eine Telefonzelle gefunden«, war Leos pragmatischer Ansatz.
    Sie machten einen Spaziergang. Helen suchte bei jedem Zeitungsstand, an dem sie vorbeikamen, Schlagzeilen nach einer toten, jungen Frau und ärgerte sich über ihre Ängstlichkeit.
    Als sie nach einer schaflosen Nacht um acht Uhr aufstand, fühlte sich Helen, als hätte sie unentwegt nach Toni gesucht. In der Küche des Hostels machte sie sich einen grauenvollen Löskaffee. Sie saß eingesunken am

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