Die wilde Gärtnerin - Roman
von ihrem Platz neben den Großeltern aufgestanden und nach hinten gegangen, um den Zirkus, wie sie die Verabschiedung empfand, mit Abstand überblicken zu können. Sie sah Toni, die sich als Familienangehörige zu ihren Großeltern gesetzt hatte und bitterlich weinte, als hätte sie ihre eigene Mutter verloren. Helen war über Tonis heftige Gemütsregung verwundert, denn sie selbst konnte keine einzige Träne vergießen. Sie glaubte weder an die Parallele zwischen Mondzyklen und Leda noch an Wiedergeburt. Für sie war das Leben ihrer Mutter vorbei, und Leda nur noch Erinnerung.
»Mein Beileid«, sagte eine sonore Stimme neben Helens Ohr.
»Schon gut«, sagte sie und drehte sich um. Die Stimme gehörte einem Mann, der bisher abseits gestanden war.
»Ich bin Robert.« Er streckte Helen seine Hand entgegen. Sie hatte sich ihren Vater, also jene Person, die sie sich schon als Kind gewünscht hatte, anders vorgestellt. In ihrer Phantasie war er klein und stämmig gewesen, wie ein Haflinger mit dicken Beinen. Zugkräftig und fest mit der Erde verbunden, als Ausgleich zur leichtfüßigen Leda. Aber der Mann vor ihr war eher ein graziler Lipizzaner. Feingliedrig, groß, hager. Kein Papa, an den sie sich angekuschelt hätte. Der Traum ihres Familienideals war wohl schöner gewesen, als die Wirklichkeit hätte sein können. Doch seine ruhigen, dunklen Augen, überhaupt seine unaufgeregte Art ließen Helen erahnen, was ihre Mutter an ihm angezogen haben könnte. Helen schüttelte ihm die Hand.
»Ich würde gerne … nach dem Essen … können wir reden?«, stammelte er.
»Rede lieber jetzt.« Helen wollte ihn nicht den ganzen Tag vor Augen haben. Er sollte bald wieder gehen.
»Es ist vielleicht unpassend …«
»Perfektes Timing hat in meinem Leben eher nachrangige Bedeutung. Sag, was du sagen willst.«
»Wegen deiner Erbschaft. Hilde hat mit dir darüber gesprochen, oder?«
Wusste er nicht, dass sich Hilde »Leda« genannt hatte? Oder war es ihm egal? Helen überlegte, ob er ihre Mutter wirklich in ihrer Entfaltung eingeschränkt hätte. »Ja, hat sie.«
»Im Grunde ist alles erledigt. Ich möchte dir nur noch sagen … wie das Haus … wie es dazu gekommen ist …«
Helen schaute sich Robert genauer an. Er war ihr nicht unsympathisch. Sie suchte nach Ähnlichkeiten zwischen ihm und ihr. Etwas in seiner Physiognomie, in seinen Bewegungen, das ihr bekannt vorkam. Er sah eigentlich ganz normal aus. Nicht wie einer, der in einer Kommune gelebt hatte. Kein Eso, kein Schamane, kein Yogi. Er war ein dünner Typ mit kurz geschorenem Haarkranz und dunkelbraunen, weichen Augen, in Jeans, Hemd und anthrazitfarbenem Sakko. Er sah nicht aus wie einer, der Sex mit ihrer Mutter gehabt hatte. Vielleicht war Robert ja auch gar nicht ihr Vater. Vielleicht war es einer der beiden anderen. Oder Ledas Geschichte von wegen Parthenogenese stimmte wirklich.
»Ich hab das Haus Lerchengasse 19 vor einigen Jahren von meiner Oma geerbt. Bisher hab ich es als wertstabile Garantie für meine Geschäfte belehnt. Aber irgendwie ist jetzt Zeit … nachdem Hilde verstorben ist … ich finde, du sollst es jetzt haben.« Er zog ein schmales Kuvert aus der Innentasche des Sakkos. »Ich hab dir die Kosten für Notar, Grunderwerbssteuer und sonstige Abgaben aufgelistet. Das wurde ja aus der Erbmasse bezahlt … ich hab mir gedacht, damit du Einblick in deine Finanzen erhältst …«
Helen nahm das Kuvert entgegen. »Muss ich dankbar sein?«, fragte sie.
Er fuhr sich über die Nasenspitze wie Wickie im Zeichentrickfilm. Oder wie ein Kokser, der soeben aus der Toilette einer Innenstadt-Bar kam. »Nein, musst du nicht. Ich bin meiner Oma ja auch nicht dankbar. Froh bin ich, aber nicht dankbar. Dafür hab ich sie zu wenig gekannt.«
Helen lächelte. Er war ganz in Ordnung. »Warum tust du das überhaupt? Leda hat gesagt, du hast jedes Monat Geld für mich überwiesen. Warum?«
Er zog geräuschvoll Atemluft durch die Nase. Sein Brustkorb hob sich dabei. »Ehrlich? Ich weiß es nicht. Vielleicht schlechtes Gewissen? Vielleicht Konvention? Das tut Mann eben, wenn Mann schwängert. Ich glaub, mir hat die Idee gefallen, mich finanziell an deiner
Aufzucht
zu beteiligen.« Er betonte das Wort angeekelt. »Zumindest wollte ich dein Erwachsenwerden aus der Ferne miterleben, irgendwie war da für mich schon immer eine Verbindung zu dir.«
Sein letzter Satz, unterstützt von seiner wohltemperierten Stimme, traf Helen. Weil sie so gar keine Bindung zu ihm
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