Die wilde Gärtnerin - Roman
Entscheidungen leichter zu akzeptieren. Zumindest mir hilft die Geschichte.« Erna räusperte sich und überblickte ihr buntes Publikum, das ähnlich gekleidet war wie ihre verstorbene Tochter. Sie selbst trug heute ein schwarzes Kleid, obwohl sie diese Farbe hasste. Schwarz war zu wenig Farbfilm. Aber der heutige Anlass hatte ohnehin nicht viel mit einem Happy End zu tun. »Es war noch bevor Hilde in die Schule gekommen ist. Wir haben einen gemütlichen Nachmittag zuhause verbracht. Wir sind am Wohnzimmerboden gesessen, haben
Jolly
oder
Schwarzer Peter
gespielt. Es hat irrsinnig gut gerochen, weil ein Gugelhupf im Backrohr war, daran kann ich mich noch ganz genau erinnern. Möglicherweise hab ich deshalb einen Kuchen mitgebracht.« Erna deutete zu dem kleinen Altar neben Ledas Erdhügel, der mit einem orangefarbenen Seidentuch bedeckt war. Darauf stand ein Bild von Leda, das sie lachend im Studio von
Herstory
zeigte, daneben weitere Dinge, die ihr Freundinnen und Freunde zum Abschied mitgebracht hatten. Ernas Gugelhupf mitten darunter. »Also wir haben gespielt und es fein gehabt, plötzlich legt Hilde ihre Karten in den Schoß und starrt vor sich hin. Ich hab mich gewundert, worüber sie nachdenken könnte, da schaut sie mich mit großen Augen an, als hätte sie etwas Eigenartiges zwischen ihren Karten gesehen. ›Können wir fortgehen?‹, fragt sie mich. Ich hab gedacht, sie will hinaus, spazieren gehen oder zu Oma und Opa. ›Nur wir beide?‹, sagt sie. ›Gehen wir und lassen den Papa da.‹ Wie kommt dieses Kind auf die Idee, mit mir wegzulaufen, hab ich mich gefragt. Dass Kinder sich gekränkt und ungeliebt fühlen, ihren Teddy schnappen und davonrennen, das kennt man ja. Aber das wollte Hilde nicht.« Erna setzte eine Pause. Weniger wegen des dramatischen Effekts, eher aus der Notwendigkeit, durchzuatmen. »Wo sie überhaupt hinwolle, hab ich sie gefragt. ›Zuerst gehen wir zu Opa und Oma und dann nach Amerika.‹ Sie hatte da anscheinend schon einen Plan. ›Nach Amerika?‹, frag ich, ›Amerika ist groß, was machen wir denn dort?‹ – ›Wir gehen zu den Indianern‹, sagt sie.« Erna unterbrach ihre Rede, diesmal gezwungenermaßen, weil einige Gäste in lautes Lachen verfielen. Auch Anton. » ›Wir wohnen in einem Zelt und tragen Kleider mit Fransen.‹ Damals sind gerade die Winnetou-Filme ins Fernsehen gekommen, ich hab mir gedacht, dass sie das dort gesehen hat.« Das Publikum klatschte und war amüsiert, dem Ritual wurde somit Genüge getan. Erna war allerdings noch nicht fertig. »Damals hab ich ihre Äußerung nicht sehr ernst genommen. Aber unlängst ist sie mir wieder eingefallen. So wie mein Mann und ich gelebt haben, hat Hilde nicht gefallen. Sie hat sich unwohl bei uns gefühlt, so muss das gewesen sein … es ist seltsam, von ihr in der Vergangenheit zu reden.«
»Dann tu’s nicht!«, rief jemand.
Erna schmunzelte über diese jungen, farbenfrohen Leute, für die alles so einfach schien. »Meine Tochter hat sich nie damit abgefunden, sich unwohl zu fühlen. Darum bin ich auch überzeugt, dass es ihr gut geht, dort, wo sie jetzt ist.« Einige klatschten und johlten. Erna machte ein Zeichen, dass sie noch immer nicht fertig war. »Was ich eigentlich sagen will, Hilde hat immer nach einem anderen, einem besseren Leben gesucht. Ohne Rücksicht auf Verluste. Ich hab das lange nicht erkannt. Als sie gleich nach der Schule ausgezogen ist, jahrelang den Kontakt zu uns abgebrochen hat, hab ich mich gefragt, warum. Wie sie ihre Tochter bekommen hat, sie allein großgezogen hat, hab ich mich gefragt, warum. Zuletzt ihr Entschluss, den Krebs nicht behandeln zu lassen. Warum? Und da ist mir auf einmal die Szene mit der kleinen Hilde eingefallen. Sie wollte zu den Indianern und irgendwie hat sie es auch geschafft. Sie lebt anders.« Erna hielt sich schnell die Hand vor den Mund und schlug dabei gegen das Mikrofon, worauf ein lautes
Plopp
aus den Boxen knackte. Mit vorsichtigen Schritten, um auf dem unebenen Untergrund nicht zu stolpern, ging sie zur Holzbank und setzte sich dicht neben Anton, als wäre nur dort angemessene Sicherheit gegeben. Anton fasste ihre Hand und drückte sie.
Es kamen noch andere nach vor, die ihre Erlebnisse mit Leda erzählten, bis Jasmin ein Abschiedslied anstimmte, in das die Festgemeinde einfiel. Danach mischte sie Ledas Asche unter die Pflanzenerde des Grabhügels und setzte Blumen darauf. Als zusätzliches Zeichen für Ledas Licht, das sie mit ihrem Wesen auf die
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