Die wilde Gärtnerin - Roman
/ eine Anmaßung / eine typisch männliche Machtergreifung. Und die wollte ich nicht mehr tolerieren. Ich beschloss, dich allein aufzuziehen. Dich vor deinen Vätern und deren Einfluss zu schützen.«
»Was?« Jetzt regten sich doch Emotionen in Helen. »Ich hätte eine normale Familie haben können? Oder besser gesagt: drei Väter? Und du wolltest mich für dich allein? Wie ein Spielzeug?«
Leda war über den falschen Gedankengang ihrer Tochter entsetzt. »Nein, nein, du verstehst nicht. Ich musste dich neuen Menschen in einer neuen Umgebung wachsen lassen. Ohne Vorgaben / Einmischungen / Abhängigkeiten von tausendjähriger Unterdrückung / Ungerechtigkeit / Reproduktion patriarchaler Hierarchien. Ich wollte dich wie einen jungen Baum in freies Feld pflanzen. Ohne Furcht / ohne Gewalt / ohne Repressalien / ohne bedingungslosen Gehorsam.«
Helen hörte ihrer Mutter nicht aufmerksam zu. Eine sich plötzlich aufdrängende Vorstellung lenkte ihre Konzentration ab:
Sie hätte ein anderes Leben haben können
. »Ich wollte immer eine normale Familie, weißt du das? Vater, Mutter, Kind. Das hab ich mir gewünscht, Mama. Ich hab sogar Toni um ihren cholerischen Vater beneidet. Weißt du das?«
Leda atmete flach. Nein, das wusste sie nicht, aber sie glaubte auch nicht, dass es stimmte. Trotzdem bekam sie Angst, Helen könnte ihr durch die Finger gleiten. »Helen, du hast ja keine Ahnung, wie das ist, mit einem Vater aufzuwachsen. Immer Angst zu haben, er könnte nachhause kommen und wäre schlecht aufgelegt. Immer zu befürchten, etwas falsch gemacht zu haben, und
alles
kann falsch gemacht worden sein, denn die Maßstäbe von falsch und richtig ändern sich oft schlagartig, ganz nach Belieben des allmächtigen Familienoberhauptes. Du hast keine Ahnung, wie hilflos und klein man sich vor einem geliebten Menschen fühlen kann. Ich habe verhindert, dass du dieses Gefühl kennenlernst. Ich habe verhindert, dass du weißt, wie es ist, wenn dich ein geliebter Mensch, von dem du abhängig bist, mit hochrotem Kopf anschreit. In der Situation glaubst du, du wärst am Elend dieses Menschen schuld. Und dieser Mensch steht für die Welt. Du bist verunsichert, wenn du deine Zimmertür nicht leise schließt / wenn du nicht isst / wenn du dich nicht fröhlich oder rasch genug für irgendetwas bedankst / denn die Gründe, in Ungnade zu fallen, sind mannigfaltig. Du hast nicht die leiseste Ahnung, wie das ist. Ich habe dich vor dieser Ahnung bewahrt. Und darauf bin ich stolz.« Leda fuhr sich mit der Hand über ihre Stirn, drückte Daumen und Zeigefinger gegen ihre Nasenwurzel.
Helen schaute ihre Mutter verständnislos an. »Nein, ich habe keine Ahnung«, sagte sie mit einem verengten Hals, der in böswilliger Kooperation mit ihren Tränendrüsen stand. Helen hatte schon so lange nicht mehr geweint, dass sie diese heimtückische Zusammenarbeit vergessen hatte. »Ich habe wirklich keine Ahnung, aber du hättest mir davon erzählen können. Statt über Odysseus und Troja einfach über meine Großeltern und dich reden. Denn du hast recht, ich habe keine Ahnung, aber
unfreiwillig
.« Beide schwiegen. Beide dachten darüber nach, ob das, was sie gesagt hatten, der Wahrheit entsprach. »Es ist dir wirklich gelungen, mich ins freie Feld zu pflanzen«, sagte Helen endlich. »Jedenfalls habe ich mich als Kind ziemlich entwurzelt gefühlt und je älter ich geworden bin, desto abgeschnittener bin ich mir vorgekommen.«
»Ich habe dich aus dem ewigen Kreislauf von Gehorsamkeit und Unterdrückung herausgehalten. Du hast keine familiäre Enge / keine verlogene Sicherheit / keine Soziophobie kennengelernt. Du musstest es keinem Vater recht machen / musstest keine Strenge / keine Stärke fürchten«, wiederholte sich Leda. Sie wollte die zweite Seite der Medaille, dass ihr Vorhaben auch unbeabsichtigte Nebenwirkung hatte, nicht anerkennen.
»Aber vielleicht wären sie anders als
dein
Vater gewesen? Vielleicht hätten sie sich
nicht
als Oberhaupt aufgespielt? Du hast ihnen gar keine Chance gegeben.«
»Helen, wie viele tausend Generationen von Vätern brauchen denn
noch
eine Chance? Die kennen doch nur das Spiel von Macht und Angst. Die müssten doch selbst erst verpflanzt werden! Vielleicht war meine Vorgehensweise radikal, aber sie war erfolgreich. Du bist wertvoll und einzigartig, wie das Leben selbst.
Du bist ein himmlisches Wunder
.«
»Mama, bitte! Ich bin kein Wunder, ich bin eher wunderlich. Ich war die mit der irren Mutter und keinem
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