Die wilde Gärtnerin - Roman
Widerstand gegen Luftschutzkeller gebrochen.
Aber diesmal wollte Amalia Panticek nicht in den Keller ihres Hauses. Im Volksempfänger waren die »Koffer« über Attnang-Puchheim schon vor einiger Zeit angekündigt worden. Laut Tabelle, auf der in konzentrischen Kreisen Entfernung und zu erwartende Ankunft der Bombenflieger eingezeichnet waren, hätten sie erst in einer Stunde eintreffen sollen. Aber da noch dazu vor den bisher heftigsten Bombardements gewarnt wurde, musste die erste Fliegerstaffel dieses Trupps eilfertig vorgeschickt worden sein. Amalia und Erna gingen ohne Umwege die Thaliastraße stadtauswärts, dem Tunnel der Vorortelinie entgegen. Ernas Empfinden nach war das eine ungehörig weite Strecke.
»Warum gehen wir nicht in unseren Keller?«, raunzte sie.
»Weil heut mehr Bomben fallen werden als sonst.«
»Aber sonst fallen auch viele.«
»Ja, aber da Endsieg lässt zu lang auf sich warten. Wir sterben ihnen net schnell genug.«
Erna verstand ihre Mutter nicht; was sie sagte, machte ihr aber Angst. Von oben konnte sie niemanden sehen. Erst als sie die Stufen zu dem Zugtunnel hinuntergingen, entdeckte Erna die Menschenmenge, die sich auf den Schienen zusammendrängte. Aber nicht nur Menschen suchten im Tunnel Schutz vor Bomben, auch schwarzen Kohlendampf ausschnaubende Lokomotiven und ihre Waggons. Lotsen winkten eine Lok nach der anderen in die finstere Unterführung, wo bereits mehrere Züge hinter- und nebeneinander standen. Mitten darunter Menschen. Sie wollten zwischen rauchenden Loks und Tunnelwänden ins Innere. Rund um Erna staute es sich, wurde es enger und dunkler.
»Weitergehen! Geht’s doch weiter nach vorn! Da kommen no welche!«, hörte Erna rufen. Worauf sich die Kolonne der Schutzsuchenden träge vorwärtsschleppte. Erna war dieser Ort unheimlich. Die Lokomotiven schnauften zwar lustig, aber sie wollte ihnen nicht zu nahe sein, wenn sich ihre großen Räder bewegten. Außerdem war es noch viel ungemütlicher als in ihrem Keller. Es gab keine Feldbetten, jeder hatte nur wenig Platz, nicht einmal hinsetzen konnte man sich, sonst würden die anderen im Dunkeln auf einen draufsteigen. Also blieb sie neben ihrer Mutter stehen und hoffte, bald wieder nachhause gehen zu können.
Und dann begann die Bombardierung. Im Tunnel war es lauter als im Luftschutzkeller, und finsterer, weil die Notbeleuchtung fehlte. Erna konnte nichts sehen. Sie klammerte sich an Amalias Bein, wickelte ihre Arme herum und lehnte ihr Gesicht an Amalias Oberschenkel. Erna presste ihre Augen zusammen, machte sie wieder auf, schloss sie, öffnete sie wieder. Das tat sie so oft, bis sie überzeugt war, es wäre egal, ob sie ihre Augen offen oder geschlossen halten würde. Die Dunkelheit war überall gleich schwarz. Der Tunnel hallte von Detonationen wider. Erna schien, als wären es wirklich mehr als sonst. Die Menschen im Tunnel wurden zunehmend unruhiger. Sie stießen und rempelten einander. Einige schrien auf.
»Einschlag vorm Tunnel! Wir werden verschüttet. Vorm Tunnel hat’s eingeschlagen!«
Die Menge drängte weg vom Eingang, versuchte tiefer in den Schacht zu gelangen. Sie zwängten sich an Erna vorbei, die sich immer fester an Amalia presste. Der Lärm im Tunnel schwoll an, wurde hysterischer, schneller und bald zu einem Getöse aus zischenden Maschinen, dröhnenden Bombeneinschlägen und Menschengeschrei. Der Druck stieg, bis Erna sich nicht mehr an Amalias Oberschenkel halten konnte. Sie wurde von der Menge mitgerissen, konnte gegen die Kraft der Masse nicht ankämpfen, versuchte bloß, nicht hinzufallen und unter hysterischen Füßen zertrampelt zu werden. Sie wusste nicht mehr, wo ihre Mutter war. Alles rund um sie war dunkel und fremd. Erna schrie so hoch und laut sie konnte, aber schon längst war die Lautstärke im Tunnel undurchdringbar geworden.
»Mami, Mamiiii!«
Sie wollte wie ein steinerner Block stehen bleiben, mit beiden Beinen fest in den Boden gerammt, und wurde doch immer weitergeschoben. Erna stieß einen anhaltenden Laut aus, als wäre sie eine Sirene, ein hängen gebliebener Fliegeralarm, eine Heulboje, die in einem Menschenmeer obenauf schwamm. »Weg! Geht’s weg! Losst’s mi zu mei’m Kind!«, rief Amalia und sah nicht, wen sie wegstieß. Sie durfte Ernas Schrei in der Menge nicht verlieren. Die hohe Kinderstimme stach ihr ins Ohr. Amalia folgte dem verzweifelten Ton. Streckte ihm ihre Arme entgegen. Ihre Finger tappten im Finsteren nach Ernas Schrei, nach Ernas vertrautem
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