Die wilde Gärtnerin - Roman
den Kragen gesteckt. Aber Stroh war ein unzureichender Ersatz für Haut und Sehnen. Stroh war kein guter Ersatz für einen Hals. Deshalb stand dem toten Soldaten, den zwei seiner noch lebenden Kollegen trugen, blutiges Stroh aus dem Kragen, und sein Kopf lag in der Hofeinfahrt. Irgendwer musste das Stroh in den Kragen gesteckt haben. Irgendwer musste den Kopf auf den Strohkragen gesetzt haben. Irgendwer musste den Kopf vom Kragen getrennt haben. Jemand musste den Hals, die einzig legitime Verbindung zwischen Kopf und Kragen, weggeschlagen haben. Das sah Anton. In Sekundenschnelle. Die beiden Soldaten setzten den Toten ab. Der ohne Handschuhe ging nach hinten zum Kopf, hob ihn auf, legte ihn dem Toten auf den Bauch. Beide packten ihn wieder, trugen ihn zur Friedhofsmauer, verschwanden hinter dem Mauerdurchgang.
Magda schaute zu ihrem Sohn, der in letzter Zeit so gewachsen war und jetzt sein Gesicht in ihrer Seite verbarg. Zu spät. Den Leichenhaufen, den kopflosen Soldaten, geronnenes Blut und Stroh hatte er schon gesehen. Der Anblick hatte sich bereits eingeprägt. Unauslöschlich, jederzeit abrufbar, meist unerwünscht, häufig nachts. Diese Bilder hatten Magda und Anton erlebt, und sie blieben in den Kammern ihrer Erinnerung. Diese Bilder würden sie durch ihre Leben tragen, mit ihnen würden sie alt werden.
Bei Tante Rosa waren beide wortkarg. Die Alte fragte sich kurz, weshalb Magda und Anton überhaupt zu ihr gekommen waren, wenn sie wie zwei verschreckte Käuzchen bei Tisch saßen. Doch Rosa ließ jedem Menschen seinen unergründlichen Willen, sie musste eben selbst mehr reden. Die beiden blieben lange. Sehr lange. Denn weder Anton noch Magda hatten es eilig, den Weg zurück an Herberts Hofeinfahrt vorbeizugehen. Sie blieben lieber bei Tante Rosa, hörten ihren sinnfreien Erzählungen zu und sahen einander immer wieder an, um sich der Existenz des jeweils anderen zu versichern. Draußen wurde es dunkel. Plötzlich hörten sie Schüsse. Drei Ehrenschüsse. Die Soldaten hatten ihre toten Kameraden schneller als gedacht eingescharrt. In fremder Erde begraben. Verbliebene Angehörige würden bald eine Todesanzeige per Post bekommen. Sie würden benachrichtigt werden, in welchem Winkel der Welt ihre Lieben ermordet worden waren.
Gefallen
, hieß das, als wären sie nur gestolpert und könnten aufstehen und zu Fuß wieder nachhause gehen. Niemand würde wissen, wo sich das Massengrab befand, in das die Toten gefallen waren. Auch Magda würde den Ort nie erfahren, in den Franz’ Überreste, falls er gefallen wäre ... sie verbat sich weiterzudenken. Tante Rosa hatte die Schüsse nicht gehört. Sie sprach unbeirrt fort. Magda drückte ihren Sohn an sich, sie küsste ihn auf seinen schwarzen, lockigen Kopf. Atmete den Geruch seiner Haare ein. Niemals, dachte sie, diesen Kopf niemals.
»Endsieg ... der Endsieg ist nahe ... Feind besiegt!« Zwei-, dreimal fuhr Amalia Panticek mit dem Leimpinsel über das schwarz-weiße Plakat, bestrich die Wand daneben, klebte das gleiche Plakat auf die bestrichene Stelle, wischte zwei-, dreimal darüber. Das wiederholte sie, bis aus der Mauer eines stark zerbombten Hauses ein Plakatfries geworden war, das aus einiger Entfernung wie die Zierleiste eines römischen Mosaiks aussah. Seit Beginn des Krieges war Amalia beim Plakatdienst zwangsverpflichtet. Von dem Wort »Endsieg«, das sie allein an dieser Mauer fünfundzwanzigmal vor Augen hatte, interessierte sie nur das »End«. Auf Sieg konnte sie gern verzichten, Hauptsache, der Krieg hatte bald ein Ende. Das einzig Gute an ihrer Dienstverpflichtung war, dass sie ihre Tochter Erna mitnehmen konnte. Der Nachteil daran war, dass Erna sich dabei langweilte und unbeachtet fühlte. Sie nahm den Leimkübel am Metallgriff und wirbelte ihn mit ausgestrecktem Arm durch die Luft, wie das Riesenrad seine Kabinen, nur schneller.
»Erna, was machst denn?«, ermahnte Amalia sie.
»Schau, da fallt nix raus«, meinte die Sechsjährige und renkte sich beinahe die Schulter aus.
»Geh, bitte lass.« Amalia griff nach dem Kübel, der sich schwungvoll gerade zur nächsten Umdrehung aufmachte, stoppte ihn in seinem Elan, verschüttete prompt ein wenig Leim dabei. Es wäre sicher zu Protest seitens Ernas gekommen, wenn das Aufheulen des Fliegeralarms, der in diesem Moment einsetzte, sie nicht zusammenzucken und erstarren lassen hätte. Erna übergab ihrer Mutter folgsam den Kübel und reichte ihr die Hand. Seit dem Erlebnis mit Frau Wolny war Ernas
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