Die wilde Gärtnerin - Roman
gegenüber, auf das sie immer zählen konnte. Gerti hatte ihre Freundin schon immer für deren Geradlinigkeit bewundert, die manchmal an Sturheit grenzte. Amalia wirkte immer entschlossen, als wüsste sie stets, was Gut und Böse war, ohne jemals daran zu zweifeln. Als ob sie ein Geburtsrecht auf Gutes hatte. »I mein’s ernst, Mali, i bring mi um, wenn dem Martin was passiert.«
Amalia hielt Gertis Blick stand. Ihre Freundin sprach von Tod. Aber Martins Tod durfte nicht in Worte gefasst werden. Ein allumfassendes Passieren war eindeutig genug. »Kumm her.« Sie nahm Gerti in die Arme, drückte sie fest an sich. »I sag da, nix wird eam geschehen und dir a net, da pass i drauf auf.«
Vielleicht hätten wir in Wien bleiben sollen, dachte Magda. Sie bewohnte eine kleine Kammer in dem alten, schäbigen Bauernhaus von Franz’ Bruder. Im Dorf galt sie als hochnäsige Städterin, die sich für etwas Besseres hielt. Ihre Kleider, die Art, wie sie sich bewegte, ihre Ansichten, alles stieß bei Franz’ Verwandten auf Missfallen. Weil sie seine Frau war, musste man sie aufnehmen. Aber mögen musste man sie nicht. Vielleicht hätten wir in Wien bleiben sollen, dachte sie, als im Weinviertel die Frontkämpfe begannen.
Die russische Armee hatte die deutsche Wehrmacht im Osten zurückgedrängt. Diese lag in Agonie und verschoss trotzdem ihre letzte Munition quer über Niederösterreichs Felder. Knapp dreißig Kilometer vom Dorf entfernt verlief die Front. Man konnte ferne, dumpfe Kanonenschüsse, Granaten und Gewehrsalven hören. Und eines Tages kam der erste Transport mit toten Soldaten.
Magda ging die Dorfstraße zu Tante Rosa hinauf. Sie wollte der alten schwerhörigen Frau Gesellschaft leisten. Wenigstens das konnte sie tun. Sie kam zum Hof des Nachbarn, dessen Tor ungewöhnlich weit offenstand. Magda konnte nicht weitergehen. Sie sah schmutzige, zerrissene Uniformen, in denen verdrehte Körperteile steckten. Die Wehrmacht hatte ihre Gefallenen in der Einfahrt des Nachbarhofs abgeladen, um sie nach und nach in einem Massengrab entlang der Friedhofsmauer beizusetzen. Magda konnte das abstrakte Bild dieses Menschenhaufens nicht erfassen. Irgendetwas stimmte damit nicht. Sie erkannte Wehrmachtsuniformen, obwohl sie weit entfernt von dem Metapherndreck »zäh wie Leder, hart wie Kruppstahl« waren. Sie erkannte Menschen.
Ehemalige
Menschen. Mit ehemaligen Bewegungen, Gedanken, Blicken. Menschen gehörten nicht so übereinandergeworfen, nicht einmal ehemalige. Wären die Leichen geordnet nebeneinandergelegen, hätte die grausame Skulptur vielleicht nicht dermaßen fremd auf Magda gewirkt. Aber übereinander hingeworfen, bedeutete mehr als Tod. Sie starrte die ehemaligen Soldaten an. Einige waren zerfetzt. Anderen fehlten die Gesichter. Extremitäten lagen, wo sie nicht liegen sollten, befanden sich in Positionen, die sie an Lebenden nie eingenommen hätten. Magda starrte auf den Leichenhaufen. Das war es, dachte sie, dahin gingen die abwesenden Männer. Von jeher. Sie gingen weg und kamen nicht mehr wieder, weil sie irgendwo mit anderen toten Männern in einer Hofeinfahrt lagen oder in irgendeinem Flecken Erde eingescharrt wurden. Die Abwesenden. So musste es mit ihrem Vater gewesen sein. Mit allen, von denen nur noch eine Todesanzeige zurückkam. Sie wollte nicht an Franz denken, aber er fiel ihr ein. Lag auch er tot auf einem Berg von Leichen? Irgendwo zwischen Murmansk und der Toskana? Leichenhaufen gab es sicher überall. Magda stand und schaute.
Angewurzelt wie ein Baum, dachte Anton, der gerade unterwegs zu seinen Freunden war und seine Mutter auf der Straße sah. Er stellte sich neben sie und verfolgte ihren Blick in die Einfahrt des Nachbarn. Anton entschlüsselte die Bedeutung des Anblicks sofort. Tod. Zerstörung. Angst. Er sah zwei Soldaten aus dem Haus des Nachbarn kommen. Die Krägen ihrer Wehrmachtsmäntel waren hochgestellt. Der eine von ihnen nestelte an seinen Lederhandschuhen herum, der andere hatte keine. Sie gingen auf den Leichenhaufen zu. Der Soldat mit den Handschuhen packte einen Toten bei den Beinen, der andere ergriff die Arme. Sie hoben die Leiche hoch, machten sich auf Richtung Durchgang zur Friedhofsmauer. Doch bei ihren ersten Schritten sank dem Toten der Kopf nach hinten. Der Kopf hörte nicht auf, nach hinten zu sinken, vielmehr fiel er ihm vom Körper. Er musste ihm vom Körper abgetrennt worden sein, und kurz bevor er auf den Leichenhaufen geschmissen worden war, provisorisch mit Stroh in
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