Die wilde Gärtnerin - Roman
setzte sich. »Das ham wir nicht wissen können.« Sie war müde von dem langen Heimweg, den vielen Toten, die sie bei Aspang und Kagran noch gesehen hatte. Den ausgebrannten Panzer, daneben ein Panzerfahrer, der zu einem halben Meter großen Klumpen verkohlt war. Dutzende aufgedunsene Tierkadaver. Pferde, deren Bäuche fast zwei Meter hoch aufgebläht waren. Gestank, Insekten, Verwesung, völlige Zerstörung. Zwei Tage Fußmarsch.
Anton und seine Mutter hatten aus Angst, noch einmal aufgegriffen zu werden, im Gebüsch übernachtet. Magda wusch sich im eiskalten Bach und zog frische Kleider an. Anton war kurz ins Haus des Onkels zurückgekehrt, um etwas Essen, ihre letzten Habseligkeiten und einen kleinen Handwagen zu holen. Vor Sonnenaufgang verließen sie das Dorf Richtung Wien. Zwei Frauen mit Kindern, die wie Magda vor den Bomben ins Weinviertel geflohen waren, schlossen sich ihnen an. Sie wollten zurück in die Stadt. Niemand musste sich erklären. Allen war klar, weshalb.
Die Nacht verbrachte die Gruppe in einem Wäldchen neben der Landstraße. Sie schliefen unruhig, aber ungestört und bei Tagesanbruch ging es weiter. Nach kurzem Marsch sahen sie plötzlich von hinten einen Militärlastkraftwagen auf sich zukommen. Die Frauen gerieten in Panik. So kurz vor dem Ziel konnte doch nicht schon wieder etwas passieren! Der Militärwagen blieb neben ihnen stehen. Die Frauen pressten ihre Kinder an sich. Die russischen Soldaten auf dem Wagen waren in anderer Verfassung als jene im Dorf. Ihre Uniformen waren sauber, ihre Gesichter gepflegt, sie waren nüchtern und vor allem gut gelaunt. Sie ergriffen Antons vollbeladenen Handkarren und hoben ihn zu sich hinauf. Niemand versuchte den Raub zu verhindern. Die Frauen blickten gewohnt unbeteiligt. Auch Anton war es gleichgültig. »Sollen sie«, dachte er, »es is sowieso alles umsonst.« Er spürte nur endlose Müdigkeit. Niemals würde er auch nur einen Schritt weitergehen. Weshalb auch? Wurde doch jede seiner Bemühungen stets zunichte gemacht.
Zwei russische Soldaten packten ihn links und rechts unter den Achseln und zogen ihn auf den Militärwagen, auf dem schon Magda und die anderen Frauen mit ihren Kindern saßen.
»Nix Krieg«, sagte einer der Soldaten, »heite Frieden, Krieg aus«, und lachte Anton glücklich ins Gesicht.
Amalias Augen tasteten Gertis lebloses Gesicht ab, aber ihr Verstand konnte nicht begreifen, dass ihre Freundin tot war. Sie stand in Gertis Küche, die Tür zum Zimmer war offen, es war eiskalt wegen der fehlenden Fensterscheiben. »Absurd«, dachte Amalia, »afoch absurd. Sich nach’m Krieg umbringen. Und dann no mit Gas. Wo ma a intakte Gasleitung lang suchen muass.« Die meisten Leitungen waren aufgrund der in Schutt liegenden Häuser stillgelegt. Aus Angst vor Explosionen. Man durfte von Glück sprechen, wenn man in der eigenen Wohnung noch Gaszufuhr hatte. Wenn man überhaupt noch eine eigene Wohnung hatte. Aber freilich, für Gerti war es kein Glück gewesen.
Amalia setzte sich auf den Tisch, ohne den Blick von ihrer Freundin zu nehmen. »Sie hod’s tan«, dachte sie, »i hab’s net verhindert.«
Gertis Körper lag auf dem Boden, das Gesicht nach oben. Sie war mit dem Kopf im Backrohr gefunden worden. Erst der Arzt, der ihren Tod attestierte, hatte sie auf den Boden ausgestreckt hingelegt und ihr Augen und Mund geschlossen. Jetzt sah Gerti friedlich aus. Als sei sie davon überzeugt, Martin bald wiederzusehen. Ihn so zu treffen, wie sie ihn geliebt hatte, bevor er Pimpf und Hitlerjunge wurde. Martins Todesanzeige lag auf Gertis Bauch in ihrer totenstarren Hand. »… in den letzten Kriegstagen gefallen in der Nähe von … begraben in fremder Erde«, stand dort zu lesen. »Einen Vierzehnjährigen irgendwo verscharrt«, las Amalia. Gerti musste heute Morgen Martins Todesnachricht im Postkasten gefunden haben. Sie musste damit in ihre Wohnung gegangen sein, die Tür zum Zimmer zugemacht, den Gasherd eingeschaltet haben. Sie musste das Backrohr geöffnet und mit der Todesnachricht in der Hand ihren Kopf hineingelegt haben. Die kleine fensterlose Küche musste sich rasch mit Gift gefüllt haben, während Gerti auf ihren Tod wartete. Amalia hatte ihre Freundin noch gesehen. Blass und traurig war sie an ihr vorbeigeschlichen, wie immer, seit Martin an der Front war. Gerti hätte den Postkasten nicht alleine öffnen dürfen, wollte Amalia das Geschehene durch Selbstvorwürfe ungeschehen machen. »I hätt sie fragen müssen, was los is, ob
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