Die wilde Gärtnerin - Roman
Jahr 1915 stand Magda neben ihrer Mutter Magdalena Wegmayer, die ihre Hand aus Vorfreude auf den 85-jährigen Kaiser Franz Joseph I. derartig fest drückte, dass sich Magdas Fingerspitzen leicht bläulich färbten. Doch Magda beklagte sich nicht. Vielmehr dachte sie darüber nach, weshalb sie auf einen alten Mann warten musste. Und die Antwort auf diese Frage wäre tatsächlich aufschlussreich gewesen. Weshalb war es für Magdas Mutter von Bedeutung, einem alten Mann in Uniform zuzuwinken? Magdalena Wegmayer, die auf dreißig Quadratmetern mit fünf Kindern und zwei Bettgehern wohnte, hatte nichts mit jemandem gemein, der eine Winter- sowie eine Sommerresidenz plus mehrere Jagdschlösser besaß. Warum wurde sie in Erwartung, ihn zu sehen, so nervös? Magdas Hand tat weh. Sie blickte hinunter zu ihren Sonntagsschuhen, die sie wegen des feierlichen Anlasses ausnahmsweise am Samstag anziehen durfte. Der linke Schuh drückte. Obwohl anzunehmen war, dass beide Füße gleich gewachsen waren, drückte Magda eindeutig der linke Schuh mehr als der rechte. Magda schaute zu ihrer Mutter hoch. »Gleich, mein Schatz, gleich, jetzt dauert’s nimmer lang.«
Die Rückenansichten, Gesäß- und Handtaschen auf Magdas Augenhöhe langweilten sie. Magda dachte an ihren Bruder Max. Der saß sicher schon zuhause, hatte seine Beute vom Schwarzmarkt mit den Kleinen geteilt und spielte mit ihnen. Er stellte die einzige Ausnahme in Magdas Männerbild dar. Zwar war er oft unterwegs, und Magda musste häufig auf ihn warten, doch sie wusste, was er während seiner Abwesenheit tat. Er hamsterte und kam verlässlich mit Essen nachhause zurück. Das machte ihn einzigartig. Darüber hinaus war er Magdas Bruder und nur zweieinhalb Jahre älter als sie, galt somit gar nicht als
richtiger
Mann.
Was ihre Halbschwester Frieda tat, konnte Magda nur raten. Frieda gefielen Dinge, die sonst niemanden interessierten. Aus dem Fenster schauen, im Bett liegen und an die Decke starren, stumm dasitzen, den Leuten beim Reden zuhören. Frieda war still und unauffällig. Meistens wurde sie von ihren Geschwistern übersehen. Alle in der Familie fanden Frieda etwas schrullig. Man vermutete, dass höchstwahrscheinlich ihr blaues Blut schuld daran war. Aber egal wo sich Frieda gerade befand oder was sie machte, es konnte dieses Herumgestehe in der Menschenmenge an Sinnlosigkeit gar nicht übertreffen, war Magda überzeugt.
»Da Magda, schau, da vorn!«, schrie ihre Mutter. Magda wurde hochgehoben und sah doch nur Schultern und Nackenhaare. »Vivat, Vivat!«, wurde gerufen. Ihre Mutter winkte irgendwem, den Magda nicht sehen konnte, heftig. Die allgemeine Spannung entlud sich in fanatischem Jubel. Wie außer sich schwenkten Menschen ihre Arme in der Luft. Dann ebbte der Freudentaumel jäh ab, Hände sanken auf ihre alltägliche Hängeposition herab, nur das Lachen in den Augen und das Strahlen um die gebleckten Zähne hielten etwas länger an.
»Zerstreuen Sie sich! Bitte auflösen, es gibt nix mehr zum Schauen«, wurden Magda und ihre Mutter von einem Wachmann aufgefordert, die Herrengasse zu verlassen. Schon wenige Minuten, nachdem Kaiser Franz Josephs Prunkwagen, vom Kohlmarkt kommend, in die Hofburg eingefahren war, verteilten sich die wartenden Menschen auf angrenzende Straßen. Magdalena Wegmayer, die mit ihrer Tochter aus Platzmangel knapp vor dem Café Central gestanden war, hatte das eben erlebte geschichtsträchtige Ereignis aufgewühlt. Mit belegter Stimme verkündete sie: »Jetzt geh’ma auf einen Kaffee.«
Sie spazierten am Café Griensteidl vorbei, auch am Demel, gingen weiter, bis sie das Café Korb betraten. Nun spürte auch Magda Freude in sich aufsteigen, aber jetzt gab es auch allen Grund dazu. Denn bald käme eine Tasse heißer Schokolade, ganz sicher, würde bei Magda bleiben, bis sie die Köstlichkeit verzehrt hätte.
Sie
würde
nicht
in weiter Ferne ungesehen vorüberziehen.
Magdas kleines, rotbäckiges Gesicht glänzte hinter dem Schlagobersgupf ihres Kakaohäferls. Plötzlich stellte sich der Umkehrschluss zu ihrer Theorie ein: Wer auf abwesende Männer wartet, geht leer aus. An
Gegenstände
musste man sich halten. Da brauchten nur einige Münzen hingelegt zu werden, schon kam fantastische heiße Schokolade samt meisterhaft geformtem Schlagobers. Ganz für sie allein. Sie verstand ihre Mutter nicht. Wie konnte die nur stundenlang auf einen alten Mann warten, der sie nicht kannte und dem sie egal war? Weshalb tat sie das und freute sich
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