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Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ich äußerst geschickt fand.
    Der Schlauch
mit dem Narkotikum wurde von einer Klammer [371]  zugehalten, und ich sah, daß das Mittel noch nicht in meinen
Körper hineinlief. Ich habe ganz genau darauf geachtet, und als mich der
Anästhesist fragte, wie ich mich fühle, tönte ich mit mächtiger Stimme los, daß
ich in meinem Pimmel noch eine ganze Menge spüren könne, und ihnen sei das
hoffentlich bewußt.
    Doch alle
lächelten nur, als hätten sie mich nicht gehört – dieser Anästhesist, die grüne
Krankenschwester und Vigneron selbst, der sich jetzt über mich beugte.
    »Zählen Sie bis
zwölf«, sagte der Anästhesist zu mir. Dann ließ er das Narkosemittel laufen, indem
er die Klammer vom Schlauch abnahm, und ich sah zu, wie das Zeug herabtröpfelte
und sich schließlich in der Gummihauptader mit der Dextroselösung vermischte.
    »Eins zwei drei
vier fünf sechs sieben«, sagte ich ganz schnell. Doch es dauerte ewig. Das Narkosemittel
veränderte die Farbe der Dextroselösung, die in meinen Arm floß. Ich sah, wie
es bis zum Ende der Kanüle floß, und als es in meinen Arm eindrang, brüllte
ich: »Acht!«
    Dann verging
eine Sekunde, die zwei Stunden dauerte, und ich kam im Aufwachraum wieder zu
mir. Dessen Decke glich haargenau der des Operationssaals, und deshalb dachte
ich, ich sei noch dort. Über mich gebeugt stand die gleiche tolle, grüne
Krankenschwester und lächelte mich an.
    »Neun«, sagte
ich zu ihr, »zehn, elf, zwölf…«
    »Wenn Sie jetzt
versuchen würden, Wasser zu lassen«, entgegnete sie.
    »Hab ich eben
erst«, sagte ich. Doch sie drehte mich auf die Seite und schob mir eine grüne
Bettpfanne unter.
    »Versuchen Sie
es bitte«, redete sie mir freundlich zu. Sie war schrecklich nett.
    Also legte ich
los, obwohl ich ganz sicher war, daß nichts kommen würde. Als der Schmerz
einsetzte, kam es mir vor, als sei es der Schmerz von jemand anders, der sich
in einem anderen [372]  Zimmer
befand – oder noch weiter weg, in einem anderen Krankenhaus. Es war ein
ziemlich starker Schmerz; und die Person, die ihn ertragen mußte, tat mir leid;
ich hatte schon zu Ende gepinkelt, als mir klar wurde, daß es mein eigener Schmerz war, daß die Operation schon
vorbei war.
    »Schon gut,
schon gut, ist schon vorbei«, sagte die Krankenschwester, strich mir das Haar
aus der Stirn und wischte mir die plötzlich aufgetauchten, verschreckten Tränen
aus dem Gesicht.
    Klar, sie
hatten mir die Angst vor dem ersten Pinkeln erspart. Aber so konnte ich es
nicht sehen. Es war ein Betrug, sie hatten mich ausgetrickst.
    Dann fiel ich
erneut in einen unruhigen Schlaf, und als ich erwachte, war ich wieder in
meinem Krankenzimmer; Tulpen saß neben mir am Bett und hielt mir die Hand. Als
ich die Augen öffnete, lächelte sie mich an.
    Doch ich tat,
als wäre ich noch völlig benebelt. Ich starrte geradewegs durch sie durch. Im
Austricksen bin ich nämlich weiß Gott auch kein Anfänger…

[373]  32
    Dantes Hölle – Neuauflage
    Der Fahrer arbeitete seit etwa drei Jahren als Chauffeur. Davor
hatte er Taxi gefahren. Der Chauffeurdienst gefiel ihm besser; niemand
versuchte, ihn zu überfallen oder niederzuschlagen; es ging viel ruhiger zu,
und die Autos waren elegant. Den Mercedes hatte er jetzt schon seit einem Jahr,
und es machte ihm großen Spaß, ihn zu fahren. Gelegentlich kam er aus der Stadt
raus – einmal war er sogar nach New Haven gefahren –, und er genoß es, den
Wagen auf der Landstraße zu steuern, wo ihn keine Ampel aufhielt. Und das
verband er seitdem mit dem Begriff »Landstraße«: eine Fahrt nach New Haven.
Weiter hatte er sich noch nie von New York entfernt. Er hatte eine Frau und
drei Kinder, und jeden Sommer sprach er mit ihr darüber, im nächsten Urlaub mit
der ganzen Familie nach Westen zu fahren. Aber er besaß kein eigenes Auto; er
wartete darauf, daß er sich einen Mercedes leisten konnte oder daß sie beim
Chauffeurdienst einen alten Wagen billig verkauften.
    Als er dann den
Auftrag bekam, Bogus nach Maine zu fahren, bereitete er sich auf die Reise vor,
als ginge es nach San Francisco. Maine! Er stellte sich Männer vor, die
auf Walfang gingen, zum Frühstück Hummer aßen und das ganze Jahr über in
Gummistiefeln herumliefen.
    Zwei Stunden
lang redete er, bis er merkte, daß sein Fahrgast entweder eingeschlafen oder in
Trance war; dann hielt er den Mund. Sein Name war Dante Calicchio, und er
stellte fest, daß, seitdem er nicht mehr Taxi fuhr, dieser Fahrgast der erste
war, der ihm

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