Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Die wilde Geschichte vom Wassertrinker

Titel: Die wilde Geschichte vom Wassertrinker Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
wie ein
ehemaliger Schriftsteller, der nichts mehr schreiben kann, oder wie ein
Exmaler, dem die Farbe ausgegangen ist. Ich habe nie herausbekommen, was du wirklich warst.
Ein arbeitsloser Schauspieler? Aber deine Wirkung war phantastisch; dich umgab
die Aura eines Exhelden, einer ehemaligen Berühmtheit. Biggie hatte ganz recht:
Den Frauen gefiel der Gedanke, sie könnten dich ins Leben zurückholen.
    Ich erinnere
mich an die Reisebusse aus Italien, die vor der American Express anhielten , an die Traube grinsender
Zuschauer, die die Kleider bestaunten und sich das viele Geld vorstellten. Eine
gemischte Gruppe stieg aus dem Bus. Ältere Damen, die unbefangen englisch
redeten und bereits damit rechneten, ausgenommen [415]  zu werden; denen es nichts ausmachte, wie
Ausländer und möglicherweise etwas dumm auszusehen. Dann eine jüngere Gruppe –
denen war es peinlich, auch nur im entferntesten mit solchen Leuten in
Verbindung gebracht zu werden. Sie versuchten, sich abzusetzen und den Eindruck
zu erwecken, sie sprächen fließend vier Sprachen. Für die anderen Touristen
hatten sie nur kühle Verachtung übrig; ihre Fotoapparate waren unauffällig, ihr
Gepäck nicht übertrieben umfangreich. Du hast dir immer die Hübscheste aus
dieser Gruppe ausgeguckt, Merrill. Diesmal hieß sie Polly Crenner.
    Ich kann es mir
genau vorstellen. Das Mädchen wird am Informationsschalter gestanden haben,
vielleicht mit einem alternativen Reiseführer wie Europe on $ 5 a Day in der Hand, in ein Verzeichnis
mit für sie erschwinglichen Pensionen vertieft. Dann bist du eilig an den
Schalter gegangen, hast den Angestellten dahinter mit einem Schwall deutscher
Wörter überschüttet – irgendwelche blödsinnigen Fragen, zum Beispiel ob jemand
eine Nachricht für dich hinterlassen habe. Doch dein Deutsch hat Polly Crenner
beeindruckt; zumindest hat sie dich angeschaut und den Blick schnell wieder
abgewendet, als du sie kurz taxiert hast, und hat so getan, als lese sie etwas
Interessantes.
    Dann hast du
ihr ganz beiläufig auf englisch – damit wurde ihr bewußt, daß du und
alle anderen sie sofort als Amerikanerin erkannten – gesagt: »Gehen Sie doch
zur Pension ›Dobler‹. Netter Laden, in der Plankengasse. Oder in den ›Weißen
Huf‹, in der Engelstraße; die Frau da spricht Englisch. Sie können beide Pensionen
zu Fuß erreichen. Haben Sie viel Gepäck?«
    Sie faßte das
als Annäherungsversuch auf und deutete nur mit einem Nicken auf ihr Gepäck;
dann wartete sie ab, bereit, dein freundliches Angebot, ihre Taschen zu tragen,
abzulehnen.
    Aber dieses
Angebot hast du niemals gemacht, Merrill, nicht wahr? Du hast gesagt: »Oh, das
ist ja nicht so schwer«, hast dich mit deinem glattgebügelten Deutsch beim Mann
am [416]  Informationsschalter
bedankt, als der zurückkam und dir sagte, es sei keine Nachricht für dich da. » Auf Wiedersehen« hast du gesagt und wolltest gehen – wenn sie dich gehen ließ. Polly Crenner hat dich offenbar nicht gehen lassen.
    Und dann? Deine
übliche witzige Altstadttour? »Wofür interessieren Sie sich, Polly? Die
römische oder die Naziepoche?«
    Und dann ein bißchen
Geschichte der Stadt Wien à la Overturf, Merrill? »Sehen Sie das Fenster da,
das dritte von der Ecke aus, im dritten Stock?«
    »Ja.«
    »Genau da hat
er sich versteckt, als sie alle hinter ihm her waren.«
    »Wer?«
    »Der große
Weber.«
    »Oh…«
    »Jede Nacht
ging er über diesen Platz. Freunde stellten ihm Lebensmittel in den Brunnen
hier.«
    Und Polly
Crenner spürte die Spannung und Romantik der damaligen Zeit, die sich wie Staub
aus dem gelobten Land auf ihr niederließ. Der
große Weber! Wer
war das?
    »Der Mörder
mietete ein Zimmer im gegenüberliegenden Haus – direkt da.«
    »Der Mörder?«
    »Dietrich, der
elende Schurke.« Und du hast finster auf das Fenster des Mörders gestarrt,
Merrill, wie ein zorniger Poet. »Es kostete nur eine Kugel, doch ganz Europa
spürte den Verlust.«
    Polly Crenner
starrte auf den Brunnen, wo sie Lebensmittel für den großen Weber hingestellt
hatten. Aber wer war der große Weber?
    Die langweilige
alte Stadt glühte wie ein Stück Kohle um sie herum, und Polly Crenner fragte:
»Was machen Sie hier in Wien?« Und was für eine mysteriöse Geschichte hast du
ihr wohl aufgetischt, Merrill?
    [417]  »Wegen
der Musik, Polly. Ich hab Musik gemacht, früher…«
    Oder, etwas
geheimnisvoller: »Wissen Sie, Polly, ich mußte weg…«
    Oder, etwas
dreister: »Als meine Frau starb, wollte ich

Weitere Kostenlose Bücher