Die wilde Jagd - Roman
Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich. »Du bist die Letzte aus dem Hause Elindorien, Tochter. Wenn deine Mutter nicht gestorben wäre und ich ihr mehr Kinder hätte schenken können, würde diese Bürde jetzt nicht allein auf deinen Schultern lasten, aber ›wenn‹ und ›wäre‹ helfen uns nicht. Wir haben nur das, was vor uns liegt. Du musst deine Pflichten deutlich erkennen.«
»Meine Pflichten«, sagte sie. »Gegenüber meinem Haus und meinem Volk.« Plötzlich verkrallte sich ein unbändiger Zorn in ihrem Magen. »Und was ist mit meiner Pflicht mir selbst gegenüber?«
»Tochter …«
»Ailric verkörpert die schlechtesten Eigenschaften des Adels!«, tobte sie. Ihr Vater blinzelte sie an, erstaunt über ihre Heftigkeit, aber sie konnte sich nicht mehr beherrschen. »Er ist ein anmaßender, aufgeblasener Würdenträger. Willst du, dass ich mich mit einem Mann verbinde, den ich verachte, nur damit ich endlich verheiratet bin?«
»Natürlich nicht, aber …«
»Und was ist mit dir und deinen Pflichten? Warum hast du nie wieder geheiratet, Papa?«
»Ich konnte es nicht!«, fuhr er sie an und machte eine Miene der Verzweiflung. »Deine Mutter war meine große und einzige Liebe. Als sie nicht mehr da war, konnte ich mich nicht dazu bringen, eine Verbindung mit einer anderen Frau einzugehen.«
»Und ich kann mich nicht dazu bringen, eine Verbindung mit Ailric einzugehen.« Mit großer Mühe mäßigte Tanith ihren Ton und ergriff die Hände ihres Vaters. Zu ihrer Überraschung zitterten sie. »Es tut mir leid, Papa, aber ich muss mir meinen Gemahl selbst suchen, und Ailric wird es nicht sein.«
Der Großherr Elindorien sah sie an; seine braunen Augen waren von Empfindungen verschleiert, die sie nicht einmal erahnen konnte. »Du hast ihn einmal geliebt«, sagte er leise.
»Ich habe einen Jungen geliebt, der die Laute so schön gespielt hat, dass die Vögel verstummt sind und ihm zugehört haben. Dieser Junge existiert nicht mehr.«
»Er ist noch immer derselbe Junge, der inzwischen lediglich zum Mann geworden ist.«
Der Zorn in ihr versiegte so schnell, wie er aufgestiegen war. Tanith schüttelte den Kopf und lächelte wehmütig. »Der Lautenspieler Ailric ist schon vor langer Zeit gestorben, Papa. Ich bin eine gute Heilerin, aber ich kann keine Beziehung wiederbeleben, die von Anfang an nicht zum Leben bestimmt war.«
Der Großherr Elindorien senkte den Blick und betrachtete ihre Hände. »Nein, vermutlich nicht.« Er seufzte und rieb mit dem Daumen über ihre Knöchel. »Hast du ihn noch? Den Barthalus?«
»Ja.«
Ein Lächeln ließ seine Mundwinkel zucken. »Du hast geweint, als ich ihn dir geschenkt habe, weil du eigentlich ein Buch mit Abenteuern eines menschlichen Prinzen haben wolltest.«
» Prinz Corum und die vierzig Ritter .« Dicke salzige Tränen der Enttäuschung waren ihr über die Wangen gerollt, sodass er ihr ein paar Tage später ein Exemplar des gewünschten Buches gebracht hatte. Sie hatte ihn vor Freude umarmt und sogar noch mehr geweint, während er ihr verwundert den Rücken getätschelt hatte. »Ich erinnere mich gut daran.«
Der Herold der Königin blies den Ruf auf seinem fein ziselierten Silberhorn. Der feierliche Zweiklang ließ die Luft wie Donner erzittern. In der Stille danach war sogar der See ganz ruhig.
»Es ist Zeit«, sagte ihr Vater schließlich und ließ ihre Hände los.
Tanith nickte. »Es ist Zeit.«
Sie glättete ihr Kleid über den Hüften. Nach der einfachen Garderobe, die sie auf den Inseln getragen hatte, drückte der schwere weiße Satinstoff sie nieder. Die weiten Ärmel des Obergewandes und die Schleppe zerrten wie Anker an ihr, während die Ärmel des Kleides sie mit ihren Perlenknöpfen vom Handgelenk bis zum Ellbogen so einengten wie ihre Pflicht.
Sie atmete tief aus. »Ich bin bereit.«
Er bot ihr seinen Arm. Mit der einen Hand hob sie ihre Röcke, mit der anderen hakte sie sich bei ihrem Vater ein und erlaubte ihm, sie nach draußen und über den moosigen Rasen zu den vielgeschossigen Türmen des Palastes zu führen.
2 6
Ansel konnte die Unterredung der Ältesten hören, ohne dafür die Seitentür der Ratshalle öffnen zu müssen. Seit dem Ende des Turniers gestern hatten sie nicht eine Minute lang geschwiegen; sie standen in Gruppen zusammen in den Korridoren oder schlenderten durch den Kreuzgang. Nur in der Stille des Refektoriums wurde er von ihrem unablässigen Gezänk verschont. Auch während der Zeremonie am Morgen in der
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