Die wilde Jagd - Roman
mit anderen Lebewesen teilte. Aber in der Stadt war eine Verkleidung notwendig, und der Barouk eines Wüstenmannes half ihm nicht dabei, als einfacher Kutscher durchzugehen. Unter einem handgesponnenen Kaif, der seine blonden Haare verbarg und einen Teil seines Gesichts verschleierte, kauerte er sich auf dem Wagensitz zusammen, weil er seine Größe verbergen wollte, und steuerte die beiden dahintrottenden Maulesel unter der Anleitung der hageren Schwester Avis, die neben ihm saß, durch die Straßen der Stadt.
Am Morgen war Resa zu ihm ins Archiv gekommen; offenbar nahm sie ihm seinen unbeholfenen Heilungsversuch nicht übel. Mit Handzeichen und Mimik hatte sie ihm bedeutet, dass sie hinausgehen und die Armen speisen wollte; der Angriff, den sie beim letzten Mal hatte erdulden müssen, könne sie davon nicht abhalten. Sie hatte um seine Hilfe gebeten, und er wollte ihr gern seinen Schutz gewähren. Alderan war irgendwo anders beschäftigt, also hatte niemand Gair von seinem Vorhaben abbringen können. Außerdem brauchte er nach drei Tagen im Haus eine Gelegenheit, nach draußen zu kommen und frische Luft statt den Staub von Büchern lange verstorbener Autoren zu atmen.
Auf El Maqqams Straßen ging es geschäftig zu, obwohl es noch sehr früh am Tage war. Überall bauten Händler ihre Stände auf, und die Ladenbesitzer öffneten ihre Geschäfte und kehrten die Schwellen. Kleine Jungen huschten durch die Menge, jagten einander und hetzten die struppigen Hunde, die auf dem Basar nach Essbarem suchten.
An vielen Türpfosten und Türsturzen sah Gair das Symbol der vielstrahligen Sonne. Manchmal war es von Wind und Wetter ausgeblichen, aber oft wirkte es wie frisch aufgemalt.
»Schwester Avis?«, flüsterte er. »Die Sonnenzeichen über den Türen – bedeuten sie das, was ich vermute?«
»Sie bedeuten, dass der Bewohner an Silnor glaubt. Dass er ein Kultist ist. Es gibt inzwischen so viele davon wie nie zuvor.« Die knochige Nonne sah missbilligend drein. »Die Stadt ist nicht mehr das, was sie einmal war.«
Gair sah zu, wie sich der schnell dahinfließende Leiberstrom um den Wagen teilte und dahinter wieder schloss. So nahe beim Südtor drängten sich Einwohner und Händler, beladene Karren und Viehtreiber mit ihren Tieren, die sie von den Gehöften entlang des Flusses mitgebracht hatten. Es hätte ein beliebiger Markttag in irgendeiner Stadt irgendwo im Reich sein können; nur die dunkle Haut der Menschen und ihre fließenden Gewänder verrieten, dass es sich um eine Wüstenstadt handelte. Das und das fast vollständige Fehlen nordländischer Gesichter.
Niemand sah ihn an oder bedrohte ihn gar; niemand schaute von seiner Beschäftigung auf. Die Angst hatte bereits Wurzeln geschlagen. Selbst die eingeborenen Maqqami spürten ihren Hauch. Sie verhielten sich ruhig und unauffällig. Mit der Stiefelspitze zog Gair den Qatan, den er unter dem Wagensitz versteckt hatte, ein wenig näher an sich heran. Es genügte ein einzelner Funke, um die Angst zu entzünden wie trockenes Gras am Ende des Sommers.
Resa, ich hoffe, du weißt, was du tust .
Er folgte der Richtung, in die Schwester Avis’ Arm zeigte, und lenkte den Wagen quer über den Platz zu einer Stelle, wo sich die Bettler im Schatten einer Wand zusammendrängten. Als er das Gefährt anhielt, löste sich der Menschenhaufen zu einzelnen Individuen auf; es handelte sich in der Hauptsache um Frauen und zerlumpte Kinder. Zuerst winkten einige zögerlich, dann jubelten sie, als Resa von der Pritsche hüpfte. Sofort versammelten sich die Kinder um sie. Sie zumindest schienen keine Angst zu haben. Kleine Hände berührten ihre Narben, aber sie lächelte nur, küsste ihre verwirrten Gesichter und half dann Avis, die Säcke mit den Nahrungsmitteln auszuladen.
Während sich eine Schlange neben dem Wagen bildete, betrachtete Gair den Platz und achtete darauf, nicht zu lange auf dieselbe Stelle zu schauen. Die meisten der dahineilenden Einwohner hielten den Blick starr geradeaus gerichtet und schenkten den beiden Nonnen keine Aufmerksamkeit, aber einige wechselten absichtlich auf die andere Seite des Platzes und warfen ihnen grimmige Blicke zu.
Falls Resa sie bemerkte, ließ sie es zumindest nicht erkennen. Sie hatte zwar die Kapuze aufgesetzt, aber nicht so weit nach vorn gezogen, dass sie das ganze Gesicht verdeckte. Gair sah, wie sie lächelte, als sie Brotlaibe und Früchte verteilte. Mit der freien Hand machte sie immer wieder das Zeichen des Segens, und wenn es
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